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Was ich noch zu sagen hätte

Andreas Mertin

11.04.2023   Der Feind, die Werte und das Unwerte

Gleich zweimal musste ich letzte Woche bei der Lektüre theologischer bzw. religiöser Texte schlucken, weil mir die Wahl der Worte und der vorausgesetzten Konstellationen suspekt war. Beide Texte hatten sich ein Feindbild auserkoren – den Fundamentalismus – und setzten sich davon in unterschiedlicher, aber jedes Mal befremdlicher Weise ab.

Der erste Text lässt gleich schon im Titel erkennen, worum es ihm geht: „Der offene Protestantismus und seine Feinde“. Das lässt an Klarheit kaum zu wünschen übrig. Der offene Protestantismus sieht sich von Feinden umzingelt, und unter ihnen ist der Fundamentalismus der bedeutendste. Wer sonst keine Sorgen hat, kreiert sich welche mit Hilfe der Sprache. Und man sprach: Es werde Feind. Schon Carl Schmitt lehrte, wie wichtig die Identitätsbildung durch Feindeserklärung ist. Hätte man keine Feinde, wäre man buchstäblich nichts: Tohuwabohu. Viel Feind, viel Ehr‘ muss sich Eberhard Pausch gedacht haben und benennt dunkel raunend neben den fundamentalistischen Feinden auch noch vier weitere Feinde, die er aber nicht weiter beschreibt, damit jeder sich die gewünschten Adressat:innen selbst ausdenken kann:

Vor diesem Hintergrund lassen sich die „Feinde“ des offenen Protestantismus klar identifizieren, die somit Formen und Ausdrucksweisen des geschlossenen Protestantismus sind: Es sind dies der ausgrenzende beziehungsweise rein selbstbezügliche Protestantismus, der autoritär-hierarchische (episkopale) Protestantismus, der ideologisch vereinnahmte Protestantismus, der dogmatistische Protestantismus und der fundamentalistische Protestantismus. Unter den fünf Formen des geschlossenen Protestantismus in der Gegenwart stellt der Fundamentalismus die größte und bedrückendste Herausforderung dar

Feind ist, so könnte man sagen, wer nicht liberaler Protestant ist. So illiberal ist mir persönlich der liberale Protestantismus immer schon erschienen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. So einfach kann die Welt sein. Und die so als Feinde deklarierten sind umfassender als es ihre nebulöse Beschreibung ahnen lässt. Denn nicht der evangelikale Fundamentalismus ist zumindest in Deutschland die größte der so skizzierten Gruppen, sondern jene Gemeindemitglieder aller Schattierungen, die an der Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi festhalten wollen. Wer aber Jesus als wahren Gott verkündet – liberales Anathema! Wer an Jesu leibliche Auferstehung glaubt – liberales Anathema! Wer an das Jüngste Gericht glaubt – liberales Anathema! So viele Häresie-Erklärungen waren seit den Zeiten der frühen Kirche selten zu vernehmen. Man ist offen für alles, was kommt, aber nicht für das Überlieferte. Kann man machen, bleibt eben kaum jemand von der Kerngemeinde übrig. Aber die interessiert den liberalen Protestantismus auch nicht. Ich wollte dieser illiberalen Bewegung nicht zugehören und zähle deshalb zu den von ihr als Feind erklärten Gruppen. Vermute ich jedenfalls, denn allen nicht zum Fundamentalismus gehörenden Feinden des offenen Protestantismus wird ja eine genauere Erläuterung verweigert. Als Differenztheoretiker fühle ich mich unwohl in einer Gesellschaft, die auf Konformität drängt und das als liberal versteht. Da fühle ich mich wohler in einer Gesellschaft Dissenter, die ihre Nonkonformität bekennen, und im offenen Austausch und Bekenntnis die Lösung sehen.

Das zweite Beispiel, das mich entsetzte, war eine – wie ich finde flapsige – Nebenbemerkung in einem Kommentar zu den kritischen Reaktionen auf die neu erschienene Alle-Kinder-Bibel. Nun waren diese kritischen Reaktionen erwartbar, man hatte ja geradezu darauf gesetzt, dass es so etwas geben würde und war zuvor landauf und landab gezogen und hatte verkündet, dass Jesus überhaupt nicht weiß war und deshalb, wenn schon nicht die Bibel, so doch deren Visualisierung geändert werden müsse. Ich hatte früher schon geschrieben, dass derlei Thesen leicht aufzustellen und schwer zu belegen sind, weil wir schlicht nicht wissen, wie sich die Gene Gottes im Rahmen des Zeugungsaktes auf die Hautfarbe Jesu auswirken und welche programmatische Bedeutung das hat. Wenn aber nicht Gott, sondern Josef oder – wie andere Überlieferungen behaupten – ein römischer Soldat an der Zeugung beteiligt war, wie qualifizieren wir das? Also, Rückfragen an die neue Alle-Kinder-Bibel waren erwartbar und auch gewünscht, nicht zuletzt, um ihr eine größere Verbreitung zu ermöglichen. Die Bibel in gerechter Sprache verdankt ja auch einen gewissen Teil ihres Erfolges dem vehementen und überaus polemischen Widerspruch ihrer Gegner. Streit belebt das Geschäft. Wie aber geht man mit dem Widerspruch um? Ich erinnere daran, wie die Autor:innen der Bibel in gerechter Sprache wieder und wieder und geradezu skrupulös auf die Argumente ihrer Kritiker:innen eingegangen sind. Jürgen Ebach wurde nicht müde, immer wieder bestimmte Entscheidungen zu begründen und zu erläutern. Darin war die Bibel in gerechter Sprache vorbildlich. Das scheint mir nun im vorliegenden Fall anders zu verlaufen. Carlotta Israel jedenfalls schreibt in der Eule:

Manche Kritik ist überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen, weil sie erkennbar darauf beruht, den Bibeltext (welchen?!) als unveränderbar hinzustellen. Die „Alle-Kinder-Bibel“ versündige sich am Wort G*ttes, erklären solche Kritiker*innen.

Nein, das erklären sie nicht, weil sie schon die Schreibung G*tt ablehnen würden, und ja, es gibt Menschen, die daran festhalten, dass die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist. Und das nicht nur in der Christenheit, sondern zum Beispiel auch im orthodoxen Judentum: „Die ganze Tora gilt im orthodoxen Judentum als maßgebendes Wort Gottes, das aber in der Zeit in seiner Auslegung entwickelt und zunehmend entfaltet wird.“ Sie halten die Bibel für deutungsbedürftig und deutungsfähig, aber dennoch für Gottes Wort. Sie meinen, dass da, wo die Bibel von Adam und Eva spricht, nicht einfach stattdessen eine ganze diverse Menschengruppe eingesetzt werden kann, weil es dem Sinn der Erzählung zuwiderläuft. Sie verlangen eine Orientierung an der gegebenen und überlieferten Schrift, auch wenn sie davon ausgehen, dass deren Sinn erst nach und nach und wieder und wieder entfaltet wird. Demgegenüber zu erklären, diese fundamentale Kritik „sei es überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen“ ist schon starker Tobak. Ist das neuer protestantischer Stil, die gegnerischen Positionen für der Erörterung „unwert“ zu erklären? Man muss die Haltung der Fundamentalisten ja nicht teilen, aber man sollte sie respektieren und ihre Anfragen beantworten und ihnen gegebenenfalls widersprechen. Diese neue Form des Kastenwesens, bei der es reicht, etwas als fundamentalistisch zu etikettieren und damit unberührbar und der Kritik unwert zu machen, ist abscheulich. Für mich erscheint das als Teil von jener Macht, die stets das Gute will und dabei doch das Böse schafft.

27.05.2023 – Nicht nur Stilfragen

Claudia Roth war als Ehrengast zur Jewrovision vom Zentralrat der Juden eingeladen und wurde dann während ihrer Rede von den Teilnehmer:innen ausgebuht. Man muss schon ein merkwürdiges Verständnis von Gastfreundschaft haben, wenn man jemanden so behandelt: ihn als Ehrengast einzuladen und ihn dann auszubuhen. Nun kann man zu Claudia Roth stehen, wie man will, ich persönlich sehe vieles kritisch, was sie macht, aber so verhält man sich nicht.

Worum es aber im Kern geht, sind nicht Stilfragen, sondern Kernfragen der Kulturpolitik und des Staatsverständnisses. Und da habe ich große Probleme, welches Staats- und Kulturpolitikverständnis der Zentralrat der Juden artikuliert. Es geht darum, dass der Staat der Kunst und Kultur vorgeordnet werden soll. Gegen zentrale Bestimmungen unseres Grundgesetzes soll der Staat entscheiden, ob bestimmt Kunstwerke zugelassen oder entfernt werden  oder Kulturveranstaltungen zugelassen werden. Dieses Verständnis ist verfassungsfeindlich – um es klar und deutlich zu sagen. Der Staat, das ist eine Lehre aus der schrecklichen Kulturpolitik des Dritten Reiches, hat sich aus der Kunst herauszuhalten. Er reguliert nicht die Kunst danach, welche politischen, sozialen oder religiösen Haltungen die Kunstproduzierenden haben. Er betreibt mit anderen Worten keine Gesinnungsschnüffelei.

Genau das fordern aber jene, die sagen, dass wer bestimmte Haltungen vertritt – etwa eine gewisse Nähe zur BDS-Bewegung erkennen lässt -, keine Auftritte mehr in Deutschland haben solle. Und es geht dabei nicht nur um öffentlich geförderte Veranstaltungen, sondern – wie das Beispiel von Roger Waters zeigt – um jede Form von öffentlichen Auftritten. Das ist umso merk­würdiger, als dass sehr feine Unterscheidungen gemacht werden, wann man auf die BDS-Nähe von Künstlern hinweist. Wenn es einem passt, lässt man den Hinweis auch schon einmal weg, in anderen Fällen wird er mühsam konstruiert – er/sie kennt jemanden, der BDS unterstützt. So sollten wir nicht mehr über Kulturpolitik reden. Die Lehre, den die Väter der Verfassung gezogen haben, war die Feststellung, dass die Kunst in Deutschland frei ist. Das heißt nicht, dass sie alles machen kann, sie unterliegt wie jeder andere den Gesetzen der Bundesrepublik, aber es gibt keine kulturpolitischen Vorgaben im Blick auf die Haltungen der Künstler:innen. Genau das wird im Moment aber gefordert und wer sich dem nicht beugt, wird ausgebuht. Im Augenblick haben fast alle Gerichte und Staatsanwaltschaften der vorsichtigen Position gegenüber einer Ausgrenzung von Künstler:innen aufgrund bestimmter Haltungen aus verfassungsrechtlichen Gründen den Vorzug gegeben. Und die Verfassung ist an diesem Punkt auch nicht einfach änderbar, es gehört zu den Grundrechten. Der Kulturstaatsministerin ist bei der Bewertung von Haltungen von Künstler:innen äußerste Zurückhaltung angeraten. Es kommt dem Staat schlicht nicht zu.

Der Zentralrat der Juden möchte nun eine Art Vorinstanz etablieren, die zunächst prüft, welche Haltung Künstler:innen z.B. im Blick auf Israel oder zur Bewegung BDS haben und dann erst die Entscheidung trifft, aber diese Künstler:innen auftreten dürfen. So etwas ist gängige Praxis in beinahe allen totalitären und islamistischen Systemen dieser Welt. Es sollte nicht die Praxis der BRD werden. Ich möchte weder, dass die Deutsche Bischofskonferenz, noch der Rat der EKD, noch der Zentralrat der Muslime und auch nicht der Zentralrat der Juden irgendein formales Recht haben, Kulturveranstaltungen zu verhindern. Das wäre ein Rückfall in vordemokratische Zeiten. Dort, wo tatsächlich Christen, Muslime oder Juden beleidigt werden, wo Volksverhetzung betrieben wird, muss der Rechtsweg eingehalten werden. Aber das ist nicht gewünscht, wohl wissend, dass wir in einem liberalen Rechtsstaat leben, in dem die Gerichte den Zensurvorhaben Schranken setzen. Deshalb versuchen einige, illiberale Abkürzungen zu etablieren – an der Verfassung vorbei auf Kunst und Kultur Zugriff zu nehmen.

Es ist nun gut, dass fünfzig Persönlichkeiten aus der jüdischen Community erklärt haben, dies geschehe nicht in ihrem Namen. Zu den 50 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des offenen Briefes zählen etwa Daniel Barenboim, Daniel Cohn-Bendit, Daniel Kahn, Barrie Kosky, Igor Levit, Rachel Libeskind, Meron Mendel, Eva Menasse, Jerry Merose, Jerzy Montag, Michael Naumann, Susan Neiman, Miriam Rürup, Sasha Marianna Salzmann, Julius Schoeps, Paula-Irene Villa Braslavsky, Albert Wiederspiel, Mirjam Zadoff oder Moshe Zimmermann. Das ist eine sehr wichtige Intervention und sie kann nicht einfach als Einzelmeinung beiseite gewischt werden. Die Verfasser erklären „Roth habe die schwere Aufgabe, in diesem Spannungsfeld die demokratischen Normen und die Freiheit der Kunst im Auge zu behalten, weil Kunst zwar politisch ist, aber politische Eingriffe in die Kunst unterbleiben müssen. Kulturschaffende bräuchten eine politische Umgebung, in der sie ungehindert arbeiten könnten. Viele Juden gestalten in Deutschland den Kulturbetrieb mit - es muss liberaler Konsens bleiben, dass Religionsgemeinschaften keinen Einfluss darauf nehmen.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/143/theomagblog143nn.htm
© Andreas Mertin, 2023