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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren I

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Ein wunderschönes Buch liegt auf meinem Schreibtisch, nahezu 500 Seiten stark im Quartformat und gebunden in rotes Leinen. Vor 250 Jahren erschien der erste Band der berühmten

Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers

konzipiert und herausgegeben von Denis Diderot und Jean le Rond d'Alembert, die nun in einer Auswahlausgabe mit 250 Artikeln als Sonderband der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen ist.

Es ist ein Buch zum Stöbern und zum Entdecken, ein Buch der Erkenntnis und nicht zuletzt auch der Relativierung unseres Wissens. Wer die ausgewählten Artikel liest, erfährt viel über die Grenz(ziehung)en der damaligen und der heutigen Welt, über die Entwicklung, die die Wissenschaft in den letzten 250 Jahren durchgemacht hat und wie viel des damaligen Wissens heute noch modern ist.

Die Idee der Enzyklopädie ist nicht eine Erfindung der Neuzeit oder der französischen Aufklärung, schon im 5. Jahrhundert vor Christus bezeichnet der Sophist Hippias von Elis mit dem Begriff der Enzyklopädie das Ideal allumfassender Bildung und im 1. Jahrhundert vor Christus beschreibt Marcus Terentius Varro das System der Artes liberales als Enzyklopädie. Aber was Diderot und d'Alembert mit ihrer Enzyklopädie dem Publikum geboten haben, war etwas ganz anderes, es war ein Stück elementarer französischer Aufklärung. Die etwa 200 Mitarbeiter, zu denen u.a. Jean-Jacques Rousseau und Louis Jean Marie Daubenton, gehörten, produzierten gemeinsam etwa 60 000 Artikel. Durch ein komplexes und z.T. auch ironisch gehandhabtes Verweisungssystem (der Artikel Abendmahl verweist so auf Kannibalismus und umgekehrt) ließen sie den Zusammenhang aller von ihnen behandelten Wissensbereiche deutlich werden. Diderots und d'Alemberts Enzyklopädie wurde zwischen 1751 und 1772 in 28 Bänden veröffentlicht. Davon waren elf reine Bildtafelbände. Heute ließe sich keine Enzyklopädie im ähnlichen Sinne schreiben. Der letzte große Versuch von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber unter dem Titel Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste umfasste 167 Bände (1818-1889) und enthielt Artikel von bis zu 1 000 Seiten Länge.

Man könnte und sollte dieses schöne Buch in die eigene Bibliothek legen und jeden Tag eine neue Seite aufschlagen, um der sich durchsetzenden und sich verändernden Ordnung des Wissens und der Diskurse seit 250 Jahren nachzugehen. Erfahren würde man so zum Beispiel etwas über

A wie Adam N wie Naturrecht oder
B wie Babel Nichts
E wie Entdeckung & Erfindung oder O wie Ökonomie
Enzyklopädie P wie Philosophie oder
G wie Geschichte Physik
H wie Heiliger Stuhl oder R wie Roman
Hirn S wie Seele
K wie Kolonie oder T wie Tier
Krieg V wie Vaterland
L wie Lied oder W wie Walfang oder
Luxus Wissenschaft
M wie Meisterwerk Z wie Zitat

Den gerade aufgezählten Artikeln wurden - und das macht dieses Buch noch lesenswerter als es an sich schon ist - "Ausblicke ins 21. Jahrhundert" heutiger "wilder Denker" beigefügt, die kommentierend aufnehmen, was die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts beschrieben haben und die es nun um eigene Perspektiven ergänzen.

An Artikeln wie dem historischen von Voltaire und dem aktuellen von Jan und Aleida Assmann über Geschichte wird so auf faszinierende Weise auch etwas von der Differenz des Denkens deutlich, das sich an der veränderten Bedeutung der Erzählung (récit) festmacht: "Unser moderner Begriff von Geschichte war Voltaire noch vollkommen fremd. Er beruht auf einer Fusion von Darstellung und Geschehen und bezieht sich sowohl auf die Berichterstattung vergangener Ereignisse als auch auf die Ereignisse selbst. Für Voltaire dagegen ist Geschichte ausschließlich der Bericht, die Kunde, das Wissen von Vergangenheit, nicht die zugrundeliegenden Geschehnisse, er definiert Geschichte als Erzählung."

Oder nehmen wir den heiter-bissig-ironischen Artikel von Jaucort über den Heiligen Stuhl, dem ein ebensolcher von Luigi Malerba beigesellt ist. Malerba vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass die Kirche jahrzehntelang versucht hat, die Encyclopédie zu verbieten bzw. der Zensur zu unterwerfen. Seinen Artikel beginnt er jedoch mit einer Anekdote, um dann aber schnell auf den kulturellen Clash der Gegenwart einzugehen: "Als Papst Johannes Paul der II. im Jahr 1994 den Sudan besuchte, erbat und erhielt der berühmte islamische Ideologe Hassan El Turabi eine Einladung zu einer Privataudienz. Erst etliche Jahre später erfuhr man, dass Hassan El Turabi während dieses Gesprächs versucht hatte, den römischen Papst zum islamischen Glauben zu bekehren ... Wenn ich mir nun die Aufgabe stellte, den dem Papst gewidmeten und vom unermüdlichen Chevalier de Jaucourt verfassten Artikel in der großen Encyclopédie auf den neuesten Stand zu bringen, dann dürfte ich das Problem der Moslems in Europa gewiss nicht vernachlässigen. Die paradoxalen und katastrophalen Hypothesen in dem kurzen Lexikonartikel ('wenn Rom zerstört würde oder der Ketzerei verfiele') müssten heute korrigiert werden, und die Hypothese Nummer eins würde lauten: 'wenn Rom islamisch würde'".

Ergänzt werden die Artikel durch eine Fülle eingeschobener sachbezogener Zitate aus Literatur, Philosophie und Politik, die ihrerseits noch einmal eine wahre Fundgrube an Reflexionsmaterial darstellen.

***

"Die Welt der Encyclopédie" kann uneingeschränkt empfohlen werden, es ist eine lohnende Investition in ein bibliophiles Buch, in ein bedeutsames zeitgeschichtliches Dokument und es ist tatsächlich zugleich, wie Hans Magnus Enzensberger dem Leser verspricht, ein "Handgepäck für das dritte Jahrtausend".


© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/am41.htm

 
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Die Welt der Encyclopédie. Ediert von Anette Selg und Rainer Wieland, Frankfurt 2001