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Magazin für Theologie und Ästhetik


Nachgelesen: Kursbuch "Glauben"

Ein Sampler

Andreas Mertin

Im September 1988 widmete sich das legendäre Kursbuch dem Thema "Glauben".[1] Das war insofern überraschend, als dieses Thema in den Augen der aufklärerischen Tradition allenfalls Privatsache, wenn nicht obsolet geworden war. Es war insoweit nicht überraschend, als sich das Kursbuch seinerzeit mit vielerlei bunten Themen beschäftigte, der Glaubensnummer folgten solche zu den Themen "Seuchen" und "Das Glück".

Periodika wie das Kursbuch sind nicht zuletzt auch Zeitgeist- und Zeit-Indikatoren und es ist interessant, sie nach einigen Jahren wieder zu lesen und festzustellen, welche Indikationskraft sie im Blick auf ein Thema hatten. Ich habe die Ausgabe zum Thema Glauben wieder gelesen, weil sie einige der Themen anspricht, die im Kontext der allerjüngsten Ereignisse wieder virulent geworden sind. Mehrere der versammelten Aufsätze enthalten Aspekte, die auch heute noch bedenkenswert sind und die Diskussion weiter bestimmen.

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Der Eröffnungsaufsatz von Herbert Will[2] arbeitet sich an der "Privatisierung Gottes" ab und analysiert das "Ende der Über-Ich-Religion" und ihre Folgen für die individuelle Frömmigkeit. Heute, so konstatiert Will, "ist ein Zustand erreicht, wie er seit der Aufklärung gefordert worden war: die Freiheit der Religion".(S. 5) Aber neben dem privaten Sektor positiver Religionsbetätigung gebe es auch eine diffuse öffentliche Basisreligiosität:

"... die Nachfolgerin der früheren Staatsreligion und des vormals autoritativ formulierten öffentlichen Wertekonsenses. Sie ist typisch für die westlichen demokratischen Staaten mit christlicher Tradition, ist diffus, nicht eindeutig formuliert, nicht institutionalisiert, aber sie beansprucht Allgemeingültigkeit und tritt gelegentlich sehr kämpferisch auf: wenn es darum geht, den »öffentlichen Frieden« zu verteidigen. Sie wurde erstmals in den USA zu Zeiten von John F. Kennedy beschrieben und wird »civil religion« genannt, bei uns Bürgerreligion oder Zivilreligion. Es ist eine allgemeine Religion ohne Kirche. Sie lebt durch die gesellschaftliche Kommunikation über einen allgemeinen Wertekonsens (Staat, Familie, Freiheit, Ordnung, Marktwirtschaft, christlich-menschliche Grundwerte, allgemeiner Gottesglaube usw.), der ... auf komplexere Weise zustande kommt - im öffentlichen Diskurs von Politik, Medien, Kirchen, gesellschaftlichen Interessengruppen und gesundem Volksempfinden.

Die »civil religion« hat ihre Bekenntnisse, zum Beispiel das Bekenntnis zur FdGO, das jedem Bürger abverlangt wird, sie hat ihre Prediger wie Willy Brandt und Helmut Kohl, der jeder Kanzel Ehre machte, sie hat ihre Schutztruppen (Polizei und Rechtssystem), und sie hat inzwischen auch eine Heilige Inquisition ... Der tendenziöse Versuch, den Normalbürger zum bedingungslosen Befürworter unseres Staates zu machen, indem man ihm seine »Feinde« scharf gegenüberstellt (als Verfassungsfeinde, Terroristen usw.) und diese unnachsichtig zu verfolgen beginnt, verfährt nach dem gleichen sozialpsychologischen Muster wie die ehemalige Trennung von Christ und Antichrist. Die staatlich-kirchliche Herrschaft wurde in der Christentumsgeschichte gerne stabilisiert durch die Ausgrenzung des Bösen, das dann als bedrohlicher Feind der Verfolgung anheim fiel: der Islam zur Zeit der Kreuzzüge, die Hexen im Mittelalter, die Juden, die Türken vor Wien." (S. 5-6)

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Rainer Döbert beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit "Zivilreligion", womit er "ein religiöses Nichts religionstheoretisch betrachtet", wie der Untertitel ironisch anmerkt.[3] Zielpunkt der Betrachtungen ist die deutsche neokonservative Beerbung der ursprünglich aus dem amerikanischen stammenden Überlegungen. Dazu paraphrasiert Döbert zunächst R.N. Bellahs aus den sechziger Jahren stammenden Überlegungen zur Zivilreligion:

"Die Vereinigten Staaten können in gewisser Hinsicht als das christlichste Land des Westens betrachtet werden. Hier ist Gott für die alltägliche Lebensführung bedeutsamer als selbst in katholischen Monopol-Ländern wie Irland, Italien und Spanien, von den anderen europäischen Ländern gar nicht zu reden. Der Begriff geht auf Rousseau zurück, der sich eigentlich mit der ganzen Aufklärung dahingehend einig war, dass auch ein auf Vernunft gegründetes Staatswesen den Büttel 'Gott' nicht würde entbehren können. Zur Aufrechterhaltung der Sittlichkeit sollten dem Bürger vom Staate der Glauben an einen allmächtigen Gott, an ein Leben nach dem Tode, an Vergeltung von Gut und Böse, an die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze sowie die Ablehnung religiöser Intoleranz (zumindest lippenmäßig) abverlangt werden. Da in Amerika Religion und Staat relativ strikt getrennt sind, bezeichnet der Begriff 'Zivilreligion' bei Bellah nun allerdings nicht mehr eine minimale, staatlich durchgesetzte Zwangsreligion, sondern bezieht sich auf einen religiösen Aspekt von politischer Kultur. Zum Kernbereich von politischer Kultur gehören die Vorstellungen der Staatsbürger vom Funktionieren und der Legitimität der staatlichen Institutionen. Bellahs 'These besagt nun, dass diese Vorstellungen in Amerika von Anbeginn bis in die Gegenwart einen Komplex religiöser Glaubensmuster umfassten, die 'neben den Kirchen und von ihnen ziemlich deutlich unterscheidbar' ihre eigene Integrität als eine gesonderte Zivilreligion behaupteten. In ihr bringen die Staatsbürger und ihre Repräsentanten einen überkonfessionellen Konsens dahingehend zum Ausdruck, dass die Souveränität Gottes der des Volkes vorausgeht und dass alle politischen Handlungen letztlich vor Gott verantwortet werden müssen: 'Der Volkswille selbst ist nicht das Kriterium für richtig und falsch. Es gibt ein übergeordnetes Kriterium, an dem dieser Wille gemessen werden kann' - der Wille Gottes, aus dessen Hand uns die Menschenrechte überantwortet wurden mit der Verpflichtung, für ihre Verwirklichung auf dieser Erde zu sorgen."(S. 68)

In den Kulturen der westlichen Welt werden die "empirischen Evidenzen" für diese Art der Zivilreligion jedoch immer spärlicher, so dass Döbert kritisch einwirft: "Ob all das ausreicht, um von einer eigenständigen »Zivilreligion« oder einer »religiösen Dimension der Gesellschaft« zu reden, ist nicht leicht zu entscheiden. Es könnte durchaus sein, dass sich hier nur noch »Trümmer religiöser Sprache« locker an Politik angelagert haben."(S. 70) Döbert ergänzt die amerikanische Diskussion dann durch jene Beiträge, die im deutschen Kontext rund zehn Jahre später geführt wurden, also Positionen von Lübbe, Luhmann und Koslowski, sieht sie aber insgesamt gegenüber Bellahs Konstruktionen als defizitär an: "Insgesamt wird man also zu dem Schluss kommen dürfen, dass Bellahs Absichten in der deutschen Rezeption verspielt worden sind." (S. 75) Und was bleibt dann?

"Als dominante Form der Religiosität würde man aus funktionalen und strukturellen Gründen eine Art von moderater Restrisiko-Religion erwarten, die im Hintergrund und in den Ritzen des weltlichen Geschehens für »Urvertrauen« sorgt. Risiken der individuellen Lebensführung (schwere Krankheit, Tod) stehen dabei im Vordergrund. Die moderate Restrisiko-Religion ist von Intellektualisierungs- und Rationalisierungsprozessen mehr als angenagt. In der Dimension der religiösen Erfahrung hat sie also ihre entscheidende Schwachstelle und wird oft als unzureichend empfunden. Wellen religiöser Erweckungsbewegungen sind das Resultat. Diese können eine fundamentalistische Gestalt annehmen, wenn sozialstrukturell erzeugter 'stress' eigentlich überholte Funktionsbereiche (konkrete Nöte) wieder reaktiviert. Die vorhandenen empirischen Untersuchungen scheinen mir dieses Szenario zu bestätigen.

Für Zivilreligion im neokonservativen Sinne bleibt in dieser Konstellation wenig Raum. Mit lebendiger religiöser Erweckung hat all das eh' nichts zu tun: Dafür ist es zu rationalistisch ... Ihre Basis hat die neokonservative Religionsphilosophie also kaum in verbreiteten religiösen Vorstellungen, wohl aber in funktionalen Verlusten, die mit dem Übergang zur deistischen Minimalreligion der Gegenwart verbunden sind. Wenn die Menschenrechte im Willen eines übermächtigen Gottes begründet sind, stellt sich die Frage nach ihrer möglichen Aufhebung durch Mehrheitsentscheid prinzipiell nicht. Wenn sie demgegenüber von uns selbst beispielsweise in Form von politischer Philosophie konstruiert werden müssen, dann lässt sich immer fragen, ob man nicht auch anders konstruieren könnte, und die Verneinung der Frage setzt einiges an Argumentationsmitteln voraus. Durch Säkularisierung der staatlichen Ordnung wäre also ein funktionaler Verlust, nämlich ein Verlust an Entscheidungssicherheit eingetreten, der sich mit »weltlichen« Mitteln nur bedingt kompensieren lässt." (S. 82f.)

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Der vielleicht im Blick auf das aktuelle Geschehen interessanteste Beitrag stammt aus der Feder eines Professors für Orientalische Philologie und Islamwissenschaft. Reinhard Schulze schreibt unter dem Titel "Der lange Bart des Propheten"[4] Folgendes:

"Religion als Kultur ist historischen Prozessen unterworfen. Über lange Zeiträume hinweg kann eine ursprünglich religiös gefasste Kultur die dominante Stellung ihrer Religion verlieren, ohne dabei auf die moralisch-ethischen Traditionen ganz zu verzichten. Eine Kultur kann so den Gehalt ihres sakralen Rahmens ändern, die durch tradierte Lebenswelten festgelegten Identifikationsmerkmale aber bleiben bestehen. Diese an sich banale Feststellung wird kaum auf die islamische Kultur angewandt. Der Islam erscheint in der Sicht der Apologeten wie der nichtmuslimischen Betrachter ahistorisch. Urteile über den Islam werden auf der Grundlage der muhammadanischen Offenbarung gefällt: hierin sind sich die Wortführer der zeitgenössischen islamischen Bewegungen mit den argwöhnischen westlichen Beobachtern einig. Diese Sicht hat schwerwiegende Folgen. Tritt beispielsweise in einem islamischen Land eine politische Gruppe auf, die sich als Teil oder gar als Avantgarde der neuen islamischen Bewegung zu erkennen gibt, dann wird diese mit dem religiösen Gehalt des Islam identifiziert. Fanatismus oder, wie oft gesagt wird, Besessenheit soll diese Religiosität der islamischen Bewegung belegen. Da Religiosität - aus der Sicht manch eines aufgeklärten Europäers - irrational ist, ist die islamische Bewegung an sich irrational. Und da diese Bewegungen sich außerdem noch an einem überzeitlichen Gesellschaftsideal orientieren, dessen Modell in der Frühzeit der islamischen Geschichte zu finden ist, werden sie mit dem Begriff »fundamentalistisch« gekennzeichnet. Die »Krise« der islamischen Gesellschaften, die oft als Ergebnis des unverarbeiteten Aufeinandertreffens von traditionsfeindlicher Modernität und a-moderner Tradition gesehen wird, sei folglich Ausdruck des Konflikts zwischen Rationalität und Religiosität. Ganz offensichtlich wird die Möglichkeit zur rationellen Weltsicht ganz auf die außerhalb von Religionen stehenden Kulturen bezogen.

Apologeten der islamischen Religion wie die Führer der verschiedenen Gruppierungen der Muslimbruderschaft unterscheiden sich an einem zentralen Punkt von westlichen, nichtmuslimischen Beobachtern: sie sehen im zeitlosen Gesellschaftsideal des Islam keine Historizität; die meisten Beobachter hingegen ordnen dieses Ideal der Geschichte, genauer gesagt, dem Mittelalter zu. Was diesen als Rückkehr zum Mittelalter erscheint, ist für einen Kader der islamischen Bewegungen Ausdruck einer wahren Modernität. Man könnte auch noch einen Schritt weiter gehen: da aus der Sicht dieses Kaders die Modernität im Grunde mit den Inhalten der westlichen Kultur verbunden ist, bedeutet die Suche nach der Durchsetzung des neuen islamischen Ideals die Durchsetzung der islamischen Post-Moderne."(S. 140f.)

Am Beispiel des Verhältnisses von Religion und Staat spitzt sich die Fragestellung zu bzw. wird die Fragestellung in der Regel aus europäischer Perspektive zugespitzt:

"Dass in der Zeit, als die heute oft zitierten Hauptschriften zur islamischen Staatstheorie verfasst wurden, also im 13. und 14.Jahrhundert, Religion selbstverständlicher Orientierungspunkt aller Überlegungen war, ist offensichtlich. Erst der Umschwung von einer theozentrischen zu einer egozentrischen Gesellschafts- und Staatsauffassung hatte, zumindest in der europäischen Kultur; die Idee von einem von Menschen eigengesetzlich gestalteten Staat aufkommen lassen. Diese Eigengesetzlichkeit, sei sie nun historisch entwickelt oder kognitiv bestimmt, schuf eine neue Identität der Religion. Der individuelle Glauben wurde mehr und mehr zum Kennzeichen der Religion, während die gesellschaftliche Verfassung zum Objekt staatlicher Politik avancierte. Wenn nun in den europäischen Kulturen von verschiedenen Seiten die staatliche Politik, die auf die Gesellschaft zielt, erneut religiös gefasst wird, dann wird wohl kaum jemand auf die Idee kommen, diese Identität der Religion mit der vorcartesianischen Identität gleichzusetzen. Zu stark ist unser Bewußtsein von der Historizität der Religion. Nun ist es auffällig, dass bei der islamischen Kultur diese Historizität und damit der Identitätswechsel der Religion des Islam nicht nur ignoriert, sondern auch bestritten wird. Warum der Islam als ahistorische Größe immer die gleichen Prämissen stellen soll, wird eben aus der Tatsache abgeleitet, dass im »goldenen Zeitalter« des Islam die religiöse Identität von Herrschaft festgeschrieben war. Für die Apologeten der islamischen Bewegungen wie für die westlichen Kritiker des Islam ist eine solche ahistorische Sicht kennzeichnend." (S. 143f.)

Im Folgenden stellt Schulze zwei entscheidende Fragen, nämlich "ob die subjektorientierte Rationalität, die die Abwendung von dem Theozentrismus begleitete, in irgendeiner Form auch in der islamischen Tradition wiederzufinden ist" und "ob der Zustand des Islam als Religion nicht doch grundlegenden Wandlungsprozessen unterworfen war, die unter anderem aus einer möglichen Enttheologisierung resultierten." (S. 144) Für beides meint er Belege sehen zu können. "Der islamische Glaube heute ist, obwohl begrifflich noch teilweise in traditionellen Kategorien gefasst, verschieden von dem Glauben zum Beispiel der Scholastik oder gar der Offenbarungszeit" (S. 145). Und auch die Diskussionen um das Verhältnis von Staat und Religion zeigen letztlich, dass in einem nachgerade ironisch zu nennenden Sinne die Vertreter der europäischen Moderne und der islamischen Bewegungen verwandter sind als sie denken:

"Wenn nun ... islamische Intellektuelle ausrufen, ja, der Islam ist Staat und Religion, dann meinen sie im Grunde dasselbe wie die Vertreter der europäisch definierten Säkularisierung. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied. Die islamischen Säkularisten fordern in einem Zuge die ideologische Charakterisierung des Staates und der Gesellschaft (= Religion) mittels der Grundtheoreme der islamischen Ideologie(n). Damit stehen die islamischen Intellektuellen Vertretern europäischer Ideologien sehr viel näher als den frommen Gläubigen, die sich von ihrer Gläubigkeit Heil und Wohlergehen im Diesseits wie im Jenseits erhoffen." (S. 150)

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Auch einige andere Beiträge des Kursbuches Glauben lohnen die Re-Lektüre, etwa Bernard Lewis' Nachdenken über "Die islamische Revolution".


Anmerkungen
  1. Kursbuch 93, Glauben, hg. von Karl Markus Michel und Tilman Spengler, Berlin 1988.
  2. Herbert Will, Die Privatisierung Gottes, Kursbuch 93, S. 1-16.
  3. Rainer Döbert, "Zivilreligion". Ein religiöses Nichts religionstheoretisch betrachtet, Kursbuch 93, S. 67-84.
  4. Reinhard Schulze, Der lange Bart des Propheten, Kursbuch 93, S. 137-150.

© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/am39.htm