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Magazin für Theologie und Ästhetik


Sinnmaschine Kino

Jörg Herrmanns Untersuchung des populären Kinos der Gegenwart

Eine Rezension von Andreas Mertin

Jörg Herrmann, den LeserInnen des Magazins für Theologie und Ästhetik bereits durch mehrere Beiträge bekannt[1], hat jüngst seine Dissertation über "Sinndeutung und Religion im populären Film" vorgelegt.[2] Erschienen als vierter Band der Reihe "Praktische Theologie und Kultur" werden auf 250 Seiten Gemeinsamkeiten und Differenzen von Kinokultur und Religionskultur untersucht. "Ist das Kino dabei, die Kirche als Sinnstifterin zu ersetzen" fragt provozierend der Klappentext. Herrmann greift damit eine Fragestellung auf, die schon Inge Kirsner fünf Jahre vorher anhand anderer Filmgeschichten bearbeitet hatte. Bereits dort hieß es auf dem Klappentext: "Was sucht der Mensch im Kino, was er in der Kirche nicht (mehr) findet?"[3] Dass Kirche und Kino sich in einem wie auch immer gearteten Konkurrenz- oder Substitutionsverhältnis befinden, scheint - bei aller sonstigen Differenz - die Gemeinsamkeit beider Arbeiten. Dass innerhalb der Kirche dieses Konkurrenzverhältnis (noch) nicht so empfunden wird, wurde nicht zuletzt im EKD-Kulturpapier "Gestaltung und Kritik" deutlich, welches der Kino-Kultur nur wenige Zeilen widmet. Unterhaltung, so die Perspektive der EKD, kann allenfalls oberflächlich zur Konkurrenz religiöser Angebote werden. Cineasten sehen das - unter Verweis auf empirische Argumente - nicht so. Die Abstimmung mit den Füßen, so ihr Hinweis, laufe schon seit Jahren anders.[4] Die Filme des Mainstream-Kinos spielten zudem eine immer wichtigere Rolle in der Sinnreflexion der Menschen.

Jörg Herrmanns Buch teilt sich in drei große Abschnitte: die Voraussetzungen gehen den Grundlagen der Kulturhermeneutik nach, skizzieren die Geschichte der kirchlichen Filmkritik und thematisieren das Verhältnis von Film und populärem Film. (15 - 106); die Analysen untersuchen exemplarisch sieben Kinofilme des populären Kinos der letzten Jahre. (107-208); die Ergebnisse beschreiben die Religion im populären Film und das ambivalente Verhältnis von populärer Filmkultur und traditioneller Religionskultur. (209 - 243).

Voraussetzungen

Man muss einleitend konzedieren, dass so gut wie alles, was das Untersuchungsfeld der Arbeit von Herrmann bestimmt, innerhalb der theologischen/akademischen Reflexion umstritten ist und zwar so kontrovers, wie schon lange nicht mehr: das gilt für den zugrunde zu legenden Kulturbegriff ebenso wie für den zu verwendenden Religionsbegriff.[5] Je nach der Definition von Kultur bzw. Religion wird man daher im Blick auf den Untersuchungsgegenstand zu völlig konträren Schlussfolgerungen kommen. Das bildet die implizite Grenze dieser Untersuchung, dass sie allenfalls ein Modell skizzieren kann, das von bestimmten, klar zu benennenden Annahmen ausgeht, welche aber nicht mehr einen allgemeinen wissenschaftlichen Konsens, geschweige denn einen common sense bilden.[6]

Zu den Voraussetzungen seiner Untersuchung zählt Herrmann zunächst den postmodernen kulturellen Kontext radikaler Pluralität (15-20).[7] Dazu beschreibt er u.a. die "Entdeckung des Ästhetischen" (20-26),[8] die Medialisierung der Gesellschaft (26-27),[9] das Verhältnis von Identität und Medien (28-30)[10] und den Wandel und kulturellen Bedeutungsverlust[11] des Religiösen (30-37).[12]

Vor dieser Folie entfaltet Herrmann dann die "Kulturhermeneutik als theologische Aufgabe" (37-44). Ihre besondere Spitze bekommt diese Beschreibung, weil sie Motive der natürlichen Theologie integrieren möchte und damit ganz bewusst (und meines Erachtens völlig unnötig) Reizpunkte der Theologie des 20. Jahrhunderts aufgreift. Es gehe darum, so Jörg Herrmann, "die allgemeine Plausibilität des christlichen Glaubens reflexiv aufzuweisen." (42) Damit ist ein apologetisches Interesse benannt, das letztlich darauf zielen müsste, dem Kino-Publikum den christlichen Glauben plausibel zu machen, ihn in die Kino-Kultur einzuzeichnen. Dazu dient Herrmanns Arbeit aber gerade nicht. Vielmehr geht es umgekehrt eher darum, der Theologie bzw. der Kirche das Kino plausibel zu machen. Herrmanns Formulierung verdeckt somit in eigentümlicher Weise den Kern des Problems der natürlichen Theologie.[13]

Denn sachlich geht es ja gerade nicht darum, ob die Theologie nicht "auch vom Menschen, von Vernunft und Erfahrung, von Geschichte und geschöpflicher Existenz und dann gewiss auch von Volkstum, Sitte und Staat zu reden"[14] hat, sondern darum, ob irgend etwas davon - und hier genauer: die Gegenwartskultur in Gestalt des populären Kinos - eine eigene "Offenbarungsqualität" hat. Dieser Nachweis dürfte schwer fallen. In der Sache muss Herrmann daher im Schlusskapitel jeden Ertrag für die natürliche Theologie auf allgemeine gesellschaftliche Tendenzen herunterschrauben. Weder die Liebe, noch die Natur, geschweige denn das Erhabene sind Themen, auf die das Hollywood-Kino das Christentum hätte aufmerksam machen müssen.[15] Vielmehr ist es gerade umgekehrt: Alle drei finden erst im Rahmen der jüdisch-christlichen Überlieferung ihren Verstehensrahmen - auch für ein Kino-Publikum, das die explizite religiöse Überlieferung gar nicht mehr kennt. Man kann dazu sowohl auf die Frühromantik als die für alle drei Topoi zentrale massenkulturelle Bezugsstelle verweisen (in welcher die Liebe, die Natur und das Erhabene erstmalig grundsätzlich fraglich bzw. privatisiert werden, wobei ihr konstitutiver Bezug zum Christentum noch unstrittig war), als auch darauf, dass ohne die grundierenden, inzwischen universal gewordenen religiösen und hier spezifisch jüdisch-christlichen Erzählungen[16] diese Botschaften des Kinos weder plausibel noch überhaupt kommunizierbar wären.[17]

Den Begriffsklärungen bzw. der Offenlegung seiner Begriffsapparatur wendet sich der nächste Abschnitt in Herrmanns Arbeit zu. Bei der Erläuterung des Kultur- und Symbolbegriffs wäre mir eine stärkere Bezugnahme auf die Erkenntnisse Umberto Ecos, die ja gerade dem Kontext der Massenkommunikation entstammen, sinnvoll erschienen.[18] Positiv beerbt Herrmann den Kulturbegriff von Paul Tillich und Clifford Geertz, letzteren freilich nur in so weit, als dieser noch von einem kulturellen Zusammenhang sprechen lässt. Keine Beachtung findet dagegen die von Geertz hervorgehobene Relativierung:

"Das angemessene Bild einer kulturellen Organisation kann, sofern überhaupt eines nötig ist, weder das eines Spinnennetzes noch das eines Sandhaufens sein. Vielleicht könnte man sie mit einem Polypen vergleichen, dessen Arme weitgehend eigenständig funktionieren, untereinander und mit dem, was beim Polypen als Gehirn gilt, nervenmäßig nur wenig verbunden sind, und der es dennoch zuwege bringt, als lebensfähiges, wenn auch recht ungeschicktes Wesen zurechtzukommen und sich - zumindest für eine Weile - zu erhalten."[19]

Die Bevorzugung des Symbolbegriffs, wiewohl Herrmann sie unter Verweis auf Michael Meyer-Blanck abschwächt, will mir nicht plausibel erscheinen. Sie verdankt sich wohl dem in der aktuellen Diskussion bedeutsamen Rekurs auf Ernst Cassirer, ist aber im Kontext von Theologie höchst missverständlich, weil philosophische und theologische Bestimmungen des Symbols allzu rasch verwechselt werden. Gerade in der Rezeption massenkultureller Phänomene scheint mir die Orientierung am Zeichenbegriff um ein Vielfaches produktiver zu sein, weil die aktive Rolle des Zuschauers so präziser beschrieben werden kann. Herrmanns anmerkungsweise vorgetragene Apologie des Symbolbegriffs (46, Anm. 126) vermag nicht zu überzeugen: Gerade der kulturelle Differenzierungsprozess von Bedeutungszuschreibungen lässt sich semiotisch viel präziser beschreiben, ohne dabei zugleich der Tradition ein allzu großes Gewicht zuzuschreiben, zum anderen werden Missverständnisse im Sinne von vorgeblichen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem, die den Konstruktionscharakter jeder Symbolisierung vernebeln, gerade vermieden.[20]

Religion versteht Herrmann als "Subsystem von Kultur" (49), ohne die damit religionsintern entstehenden Probleme präziser in Augenschein zu nehmen. Niklas Luhmann hat zu Recht darauf verwiesen, dass mit der Einführung der Religion als Teil der Kultur gravierende Veränderungen in der Wahrnehmung und Selbstbeschreibung von Religion vollzogen werden.[21]

Herrmann legt seiner Studie einen weiten funktionalen Religionsbegriff zugrunde, "denn nur ein solcher Begriff von Religion ermöglicht es, kulturelle Religionsanalogien überhaupt erst wahrzunehmen und somit die 'unsichtbare Religion' außerhalb der religiösen Institutionen und Traditionen sichtbar zu machen." (52) Die Frage, die ich an dieser Stelle einwerfen würde, wäre, ob mit dem weiten funktionalen Religionsbegriff kulturelle Religionsanalogien nicht überhaupt erst konstituiert bzw. konstruiert werden und somit die so genannte unsichtbare Religion nicht sichtbar gemacht, sondern vielmehr produziert wird. Das Ergebnis der Untersuchung scheint hier offensichtlich nicht unbeeinflusst vom Versuchsaufbau.

Im Folgenden skizziert Herrmann die verschiedenen Bestimmungen von Religion durch Ulrich Barth, Clifford Geertz, Thomas Luckmann und Wilhelm Gräb, um anschließend auf die Probleme des funktionalen Religionsbegriffs einzugehen (52-59).

Mir wäre insgesamt an dieser Stelle der "kalte" Religionsbegriff von Niklas Luhmann plausibler gewesen, weil er Funktion weniger im Sinne von "dient zu" als vielmehr von "funktioniert so" versteht und damit einigen Verflachungen funktionaler Religionstheorie entgeht (nicht ohne andere Probleme für die Theologie heraufzubeschwören bzw. zu beschreiben). Vor allem wäre bei Luhmann zu lernen, dass "Ausdifferenzierung" anstelle von "Religionsanalogie" die meines Erachtens sinnvoller zu verfolgende Spur wäre. Es geht um Verschiebungen z.B. in ästhetische Sinngehalte, aber eben nicht um Substitutionen oder Analogien.

Der nächste Abschnitt in Herrmanns Arbeit widmet sich dem Thema "Film und Religion in protestantischer Perspektive" und rekonstruiert die evangelische Filmarbeit seit ihren Anfängen Ende der vierziger Jahre (66-77). Es folgt die Charakterisierung des Mediums Film und hier spezifischer des populären Films (78-93). Zur kulturellen Bedeutung des populären Films resümiert Herrmann - Eckart Gottwald folgend -: "Von den Rezipienten werden die Vorbilder und Sinndeutungsangebote des Films selektiv im Prozeß der individuellen Sinn- und Lebensorientierung verarbeitet. Populäre Filme tragen so zur Identitätsbildung und zur weltanschaulichen Orientierung bei. Damit erfüllen sie typische Funktionen der Religion und können als Religionsanaloga dienen."(93)

Im Abschnitt "Gemeinsamkeiten und Differenzen von populärer Filmkultur und traditioneller Religionskultur" (94-102) bestimmt Herrmann zunächst die Sinnvermittlung, die Erzählung und den Mythos als mögliche Schnittpunkte, das grundlegende Verhältnis von Wort und Bild als Differenz beider Kulturformen. Über "Sinn" als Gemeinsamkeit wird weiter unten in der zusammenfassenden Kritik noch zu sprechen sein (sie ist so allgemein, dass sie für jede Formbildung verwendet werden kann). Über die Erzählung als Gemeinsamkeit kann man lange diskutieren. Was mich irritiert, ist die vorschnelle Zuordnung der Filmerzählung unter 'ästhetisch' und der religiösen Erzählung unter 'referentiell'. Hier ließen sich mit vielen Gründen auch gegenteilige Zuschreibungen vornehmen.[22] Dass die Multimedialität des Kinos jener der Religion unterlegen sei, kann nur behaupten, wer Medien auf technische Medien einschränkt. Im Blick auf einen Gottesdienst einer russisch-orthodoxen Kirche, einen Fernsehgottesdienst einer evangelikalen Gemeinde in Amerika wird man diese These jedenfalls einschränken müssen.

Die unterschiedliche Gewichtung von "Wort und Bild" als spezifische Differenz von Filmkultur und Religionskultur ist eine nur auf der Oberfläche stimmige Zuschreibung. Das die christliche Religion vom Wort lebt und der Film vom Bild trivialisiert die religiöse Verwendung des Wortes "Wort" und unterschlägt, dass der Film weiterhin in allen konstitutiven Momenten - anders als etwa die Bildende Kunst - auf Worten basiert. Film ist in einem spezifischen Sinne auch "Illustration", während "Wort Gottes" in einem spezifischen Sinnen eben auch "Bild" ist.[23]

Eilert Herms hat deshalb vorgeschlagen, das Medium der Offenbarung als 'szenische Erinnerung' zu beschreiben.[24] 'Wie jede Erscheinung des Wahrseins-von-Zeichen wird auch der Gegenstand des christlichen Glaubens ausschließlich gegeben und mitgeteilt im Medium des Erlebens, also der unsere Erwartung prägenden szenischen Erinnerung, und das heißt, in der Sprache der Bilder'. Die Kirche, die Gemeinde, die Glaubenden leben in der Sprache der Bilder. Die 'Sprache der Bilder' umfasst dabei mehr als nur den semantisch fixierbaren oder optisch wahrnehmbaren Gehalt eines Ausdrucks, sie umfasst unser gesamtes Erleben. 'Weil unser szenisches Erleben das Ganze unserer Leibhaftigkeit umfasst, hat die Erinnerung an es stets synästhetischen Charakter ... Auch rhythmische Empfindungen, Gerüche und Klänge lassen Bilder erinnerter Szenen in uns aufsteigen.'[25] Szenische Erinnerung wird dabei verstanden als ein umfassender Simultanbegriff, welcher sowohl 'artistische Gebilde' als auch 'das Bild des Wortes' meint. Die Kirche lebt danach 'von der Kraft und im Medium der österlichen Erscheinung des Wahrseins des Lebenszeugnisses Jesu und seiner Botschaft'. Dieses Bild ist ihr Ur- und Vorbild. Die Kirche lebt zugleich 'von der Kraft und im Medium der Sprache derjenigen Bilder, die sie an jenes elementare Bild der erschienenen Wahrheit erinnern ... und insofern ... von der Kraft und im Medium der Bilder des gegenwärtigen Alltags und Weltgeschehens'. Insofern die Kirche in dieser Welt lebt und für ihr Erleben Zeugnis ablegt, lebt sie 'auch im Medium und von der Kraft der Sprache dieser Bilder ihres eigenen Zeugnisses in der Welt'. Das bedeutet für die 'Kirche des Wortes', dass 'alle in ihr und von ihr hervorgebrachten Bilder - alle Bilder also, in denen sie sich darstellt - 'Wort' sind'. Insofern verbietet sich eine einfache Gegenüberstellung von Wort und Bild im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Kino.

Anhand der Rezeptionssituationen in Kino und Kirche macht Herrmann nun Feststellungen, die nicht unwidersprochen bleiben können. Schon im Abschnitt über das Erzählen hatte Herrmann behauptet: "Während die filmische Erzählung auf freie subjektive Aneignung hin ausgelegt sind, haben die religiösen Erzählungen diesen Charakter durch die Traditionsbildung verloren" (97). Luhmann hat aber gerade darauf verwiesen, dass "die Glaubensgeltung des Textes von einer laufenden 'redescription'" abhängt.[26] Gerade die Geschichte der jüdisch-christlichen Religion ist ja eine der permanenten 'redescription' der biblischen Texte.

Zur Differenz der "Dispositive des populären Films und der christlichen Religion" schreibt Herrmann dann: "Das Kino verlangt nicht mehr als den Kauf einer Eintrittskarte. Die Kirche hingegen will das ganze Leben bestimmen. Zugespitzt: der individuellen Freiheit des Kinos steht der Totalanspruch der Kirche gegenüber. Das Kino ermöglicht eine individuelle Aneignung seiner Sinnangebote, in der Kirche vollzieht sich die Rezeption in einem soziokulturellen Kontext, der über den Gottesdienstbesuch hinaus Verbindlichkeit beansprucht."(101f.)

Die so vorgetragene Beschreibung entbehrt meines Erachtens jeglicher Grundlage. Man könnte die Differenz mit viel mehr Plausibilität exakt andersherum beschreiben: während der Gottesdienstbesuch die Freiheit eines Christenmenschen in keiner Weise beeinträchtigt, zielt jede Filmerfahrung im Kino notwendig auf die Überwältigung des Betrachters. Das wird ja auch von Cineasten verifiziert, wenn sie sagen, dass man einen Kinofilm nicht im Fernsehen betrachten könne. Warum wohl nicht? Weil sich mit dem Medienwechsel eine Distanz aufbaut, die die überwältigende Unmittelbarkeit des Kinos bricht.

Der häufig gezogene Vergleich der Situation des Kinobesuchers mit der des Menschen in Platons Höhlengleichnis verdeutlicht den nicht latenten, sondern durchaus manifesten Gewaltcharakter. Die Kirche und ihre Predigt beziehen sich dagegen darauf, was "jeder vernünftige, einigermaßen zum Verstehen befähigte und gebildete Mensch erfassen kann".[27] Gottesdienst ist ja keinesfalls Mission, sondern im Ritual fundierte Kommunikation. Man kann den Gottesdienst daher konträr zur Höhlensituation als "Weg ins Leben" (Josuttis) verstehen.

Analysen

Die nächsten 100 Seiten des Buches widmen sich nun der Analyse von sieben Werken des populären Kinos im Interesse einer sich anschließenden theologischen Deutung. Es sollte dabei besonders hervorgehoben werden, dass Herrmann hier geradezu empirisch vorgeht. Anders als andere vergleichbare Studien, die sich ihre Kinofilme gezielt für die jeweilige Fragestellung herauspicken und sich somit dem Vorwurf der Willkür aussetzen, greift Herrmann - mit einer als Paradigma etikettierten Ausnahme - auf den Pool der populärsten Kinofilme der letzten zehn Jahre zu. Es gehört ja zu den Fallstricken theologischer Argumentation, dass sie auf bestimmtes, vorher gezielt für die religiöse Interpretation selektiertes Material der Gegenwartskultur zugreift und verweist, ohne dessen empirische Relevanz zu untersuchen. Diesen Vorwurf kann man Jörg Herrmanns Untersuchung nicht machen, er stellt sich der populärkulturellen Herausforderung, ohne das Material vorab zurechtzuschneiden.

Analysiert werden neben "Pulp fiction" (der als einziger Film nicht den zwölf beliebtesten Kinofilmen entstammt, sondern als postmodernes Paradestück dient), "Pretty Woman", "Jurassic Park", "Forrest Gump", "Der König der Löwen", "Independence Day" und natürlich - unvermeidlich und notwendig für jede Interpretation des ausgehenden 2. Jahrtausends - "Titanic". Diese Filme werden jeweils im Blick auf ihre Erzählung, ihre ästhetischen Besonderheiten und die Schnittstellen zur Religion vorgestellt.

Das alles ist sehr detailreich und faszinierend, und sei der Lektüre der Leserinnen und Leser anempfohlen, auch wenn man sich über die Deutung einzelner Werke natürlich streiten kann, etwa wenn "Pulp fiction" konsequent als ironische Lesart traditioneller Religion gelesen wird, statt einmal eine andere Lesart zu probieren. Insbesondere die Charakterisierung von "Independence Day" verdient natürlich nach den terroristischen Ereignissen vom 11.09.2001 eine Re-Lektüre.[28]

Ergebnisse

Im abschließenden dritten Kapitel sichert Herrmann das zuvor Erarbeitete. Die erste Differenzierung, die Herrmann vornimmt, ist die zwischen expliziter und impliziter Religion. Explizite Religion im Sinne der Semantik traditioneller Religion kommt zwar im populären Kino vor, allerdings nur am Rande und "schwingt als kultureller Deutungskontext" mit. Daraus folgert Herrmann: "Diese Positionierung des explizit Christlichen entspricht seiner gegenwartskulturellen Marginalität." (210) An dieser These ist zweierlei fraglich. Erstens macht sie natürlich nur dann Sinn, wenn man den Kinofilm als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse im 1:1-Format versteht. Davon kann aber keine Rede sein. Zum anderen zeigt der Blick auf die amerikanische Kultur, der ja die vorgestellten Filme alle entstammen, dass dort Religion - die christliche zumal - keineswegs gegenwartskulturell marginal ist. Nicht zuletzt die Ereignisse nach dem 11. September haben dies nachdrücklich bewiesen. Wenn das aber so ist, dann bedarf es für die marginalisierte Rolle expliziter Religion im US-Kinofilm der Gegenwart andere Erklärungen, z.B. die der Ausdifferenzierungen von Sinnstiftungen. Die Perspektive des post-christlichen Deutschlands ist keine zureichende Erklärungsperspektive für globale Entwicklungen und Phänomene.

Im Gegensatz zum fehlenden Vorkommen expliziter Religion sieht Herrmann nun aber im populären Kino der Gegenwart das virulent, was er "implizite Religion" nennt. Er macht dies an drei Topoi fest, die er im Blick auf das Mainstream-Kino der 90er Jahre für zentral hält. Es sind dies die Liebe, die Natur und das Erhabene. Nun sind das - vielleicht nicht ganz zufällig - gleichzeitig Topoi, die die Gegenwarts-Philosophie und -Soziologie als zentrale Topoi der letzten Jahrzehnte bestimmt hatte, ohne dabei freilich im Besonderen auf das Kino zu rekurrieren. Insofern ist noch einmal zu fragen, inwiefern das Kino ein besonders ausgezeichneter Indikator sein sollte, wenn sich Gleiches auch im konzentrierten Nachdenken über die Gegenwart erschließen lässt. Ulrich Becks Verweis auf die Liebe als Zentralreligion des 20. Jahrhunderts, Gernot Böhmes und Martin Seels Rekurs auf das Naturästhetische und Jean-François Lyotards Hervorhebung des Erhabenen sind - worauf Herrmann selbst hinweist - für die Beschreibung der Gegenwart mindestens ebenso erhellend wie das Kino. Mehr noch, müsste man nicht präziser sagen: die Liebe ist ein zentrales Orientierungsmuster des 20. Jahrhunderts, das menschliche Verhältnis zur Natur ist im 20. Jahrhundert auf dem Gipfelpunkt der Entfremdung angekommen und das Erhabene ist nach seinem Untergang im realen Leben zu einer sensualistischen Größe im Fiktionalen/Imaginären geworden - und genau deshalb kommen diese drei Topoi in nahezu allen kulturellen Kodierungen der Gegenwart verstärkt vor. Neu daran ist allenfalls, dass das Kino uns diese drei Topoi als wesentlich medial vermittelte und Fiktionale präsentiert. Die Medialisierung und Fiktionalisierung von Erfahrung ist die Botschaft, die Hollywood verkündigt. Ob diese Predigt aber vor der Wirklichkeit Bestand hat, werden erst die Nachwirkungen des 11.09. zeigen.

Betrachtet man die zentralen drei Begriffe genauer, wäre zu fragen, was das Kino über die Aufnahme gesellschaftlicher Strömungen hinaus an spezifisch Neuem = Differentem in den kulturellen Gegenwartsdiskurs einbringen kann, was es mehr tut, als "allgemeine Trends der Gegenwartskultur widerzuspiegeln: die Liebesreligion, die Öko-Religion und die Suche nach Erlebnisintensität durch die Simulation des Erhabenen." (230)

Im Blick auf die Liebe ließe sich meines Erachtens problemlos zeigen, dass das, was Herrmann der Kinokultur der 90er Jahre zuordnet, bereits 190 Jahre vorher in der Romantik vor- und ausformuliert wurde,[29] so dass auch hier das Kino nur eine Nach-Erzählung bietet. Dass hier ein grundlegender Medienwechsel von der Schriftkultur zu den audiovisuellen Medien stattgefunden hat, wie Herrmann meint, bedürfte vor dem Hintergrund einer Liebes- und Sinnsemantik, wie sie etwa Rosamunde Pilcher populärkulturell ausbreitet, noch einer eigenen Untersuchung. Und wenn tatsächlich audiovisuelle Medien eine besondere Rolle spielen, dürften die Rollenklischees der Vorabendserien einen größeren Einfluss ausüben. Sie sind allerdings nicht globalisiert - anders als der Hollywoodfilm.

Was die Natur betrifft, so ist die cineastische Bearbeitung, wie Herrmann zu Recht anmerkt, weitgehend eine Spiegelung der Botschaften und Kritiken der weltweiten ökologischen Bewegungen, wie sie sich auch im kirchlichen Prozeß "Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung" darstellen. Auch hier ist das Kino den gesellschaftlichen Bewegungen allenfalls parallel. Ob die Natur als religionsanalog im Sinne eines obersten Werte- und Orientierungsrahmens dient, scheint mir fraglich. Hier wird vielleicht die eher marginalisierte Öko-Bewegung als repräsentativer Teil der Gesellschaft missverstanden. Vielleicht ist das doch eine etwas verengte Perspektive, die einer Teilströmung eine zu große Bedeutung beimisst. Die Technologiekritik, die einen guten Teil der Hollywoodfilme auszeichnet, ist in der Regel immer gepaart mit einem formalen Technologiefetischismus.

Das Erhabene, das in der philosophischen und religiösen Diskussion immer wieder eine besondere Rolle spielte, stellt nun gerade im Blick auf das Kino ein besonderes Problem dar. Im Kern ist das Erhabene ja der Triumph des menschlichen Geistes über einen ursprünglich empfundenen realen Schrecken oder eine ursprünglich empfundene reale Maßlosigkeit. Die Frage ist, ob für den modernen Menschen das Erhabene anders als simuliert - und damit eben nicht mehr als erhaben - auftreten kann. Wie Niklas Luhmann süffisant anmerkt, war schon für August Wilhelm Schlegel "das Sublime nur noch ein vornehmes Abführmittel bei intellektuellen Verstopfungen".[30] Wer sich nicht mehr erschrecken und fürchten kann, sucht den simulierten Schrecken als neue 'Erlebnisintensität'. Aber da er vorab schon weiß, dass die Gefahr keine reale ist, das Maßlose nicht maßlos ist, bleibt für das Gefühl des Erhabenen so gut wie nichts übrig, genauer: es wird überführt in eine Art genießerischen Sensualismus, wie wir ihn auch schon Anfang der 90er Jahr in der Bildenden Kunst wahrnehmen konnten.[31]

"Wechselseitige Irritation" sieht Herrmann als mögliche hoffnungsvolle Perspektive im Dialog von populärer Filmkultur und traditioneller Religionskultur: "So kann der populäre Film die Theologie an ihre Naturvergessenheit erinnern, während die Theologie den populären Film auf die Naivität einer unreflektierten Heiligsprechung der Natur aufmerksam machen kann. So kann das populäre Kino die Theologie über die gegenwartskulturellen Codierungen der Liebe aufklären, während die Theologie dem populären Kino die Selbstreferentialität seiner Liebesbotschaft bewusst machen kann. So kann der populäre Film die Kirche auf ihre Erlebnisarmut stoßen, während die Theologie Anlass gibt, die Eindeutigkeit und den Märchencharakter der Krisenbewältigung des populären Films zu hinterfragen."(232) Die Frage ist natürlich, wie dieser Dialog zustande kommen kann und ob sich hier nicht vielmehr ein relativ einseitiges Gesprächsinteresse artikuliert. Das Interesse einer gegenwartskulturellen Selbstaufklärung der Theologie ist ja noch nachvollziehbar, wie aber soll die Aufklärung des Kinos geschehen? Und wer hat Interesse daran - außer den Theologen?

Der letzte Abschnitt des Buches von Jörg Herrmann stellt sich unter der Überschrift "Populäre Filmkultur und traditionelle Religionskultur zwischen Ausdifferenzierung und Ablösung" noch einmal der grundlegenden Frage nach der Möglichkeit kultureller Substitutionen von Religion. Nach Herrmanns vorsichtiger formulierter Einschätzung erweise sich zumindest für heutige Jugendliche das Kino als bestimmender Faktor im Blick auf die narrative Lebensdeutung. Alltagskulturell werde Religion nahezu vollständig durch andere kulturelle Sinnangebote substituiert. Aber da es Bereiche gibt, die von den nichtreligiösen kulturellen Formen der Moderne weiterhin nicht abgedeckt werden, bleibt der Bereich der großen Transzendenzen der traditionellen Religionskultur vorbehalten: "Geburten, Todesfälle und Hochzeiten lassen sich nicht gut im Cinemaxx begehen. Auch existentielle Lebenskrisen sind mit Mainstream-Movies nicht zu bewältigen." (240)

Und dennoch wird zum Schluss nicht ganz klar, wie Herrmann die beobachtbare moderne Ausdifferenzierung ursprünglich religiös beheimateter (aber damit noch nicht zwingend religiöser) Funktionen deutet: ob er a) Ausdifferenzierung letztlich als Funktions- und Bedeutungsverlust der Religion versteht, oder b) als ein Zu-sich-selbst-Kommen der Religion im Sinne der Bearbeitung der großen Transzendenzen wahrnimmt oder c) als eine eventuell vorübergehende Schlechtanpassung der christlichen Religion an die Bedingungen der modernen Gesellschaft ansieht (seine Studie wäre dann ein Therapeutikum gegen eine gegenwartsvergessene Theologie). Für alle drei Auslegungen gibt es Indizien in der Arbeit. Aber vielleicht ist das auch ein authentischer Ausdruck einer theologischen Situation, in der Übersichtlichkeit nur um den Preis der Komplexitätsreduktion zu haben wäre und Widersprüche daher bewusst in Kauf genommen werden müssen.

Zusammenfassende Kritik

Insgesamt erweist sich Jörg Herrmanns Arbeit als beeindruckende Studie der Schnittstellen von Kino und Religion. Sie breitet das Material aus, an dem sich theologische Gegenwartsdeutung abarbeiten muss. Insofern gehört das Buch in die Handbibliothek jedes kulturhermeneutisch Interessierten. Und das sollte, um ein Zitat Albrecht Grözingers aufzugreifen, jeder Theologe sein: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Theologie treiben kann, ohne regelmäßig zeitgenössische Literatur zu lesen oder die Tendenzen der Bildenden Kunst zur Kenntnis zu nehmen"[32] - wobei hinzuzufügen wäre: oder aktuelle populärkulturelle Phänomene wahrzunehmen.

Das Bedeutungsvolle und die Stärke des Buches sehe ich in der Herausforderung zur kulturhermeneutischen Deutungsarbeit am populärkulturellen Material selbst.[33] Nur in der konkreten Deutung erweist sich die Stärke oder Schwäche theologischer Arbeit. Das exemplarisch geleistet zu haben, ist das Verdienst dieser Arbeit. Dass sich die Auseinandersetzung mit dem narrativen und ästhetischen Material des Mainstream-Kinos lohnt und dass die Theologie nur um den Preis der Ignoranz darauf verzichten kann, wird bei der Lektüre von Jörg Herrmanns Studie mehr als deutlich.

Skeptisch bin ich neben den schon eingetragenen Marginalien in drei Punkten: Das ist zum einen die Frage nach der Tragfähigkeit, das heißt nach der Konkretheit und Verbindlichkeit der gemeinsamen Sinnperspektiven, zum anderen die Frage nach den humanitären Gehalten der audiovisuellen Erzählungen des Kinos und schließlich die Frage nach der Reichweite des Kinos als gesellschaftlicher Sinnvermittler und damit zugleich nach den notwendig bleibenden - vielleicht auch soziologisch begründeten - Differenzen zwischen Kino und Kirche.

Sinn-Maschine

Die Beschäftigung mit der im Buchtitel so genannten "Sinnmaschine Kino", soviel scheint deutlich zu werden, darf kein Programm zur Re-Vitalisierung der Kirche sein, also von rein apologetischem Interesse getragen sein. Vielmehr muss die Begegnung und Auseinandersetzung in der Sache selbst begründet sein. Dass Sinnvermittlung das Gemeinsame von Kino und Religion sei, ist eine der tragenden Denkfiguren der Arbeit von Jörg Herrmann. Es ist aber fraglich, ob die Sinnfrage - die natürlich religionsfunktionale Implikationen bis in ihre Wurzeln hat - die richtige Basis für eine Verhältnisbestimmung von Kino und Religion abgibt, m.a.W. ob sie eine genügende Offenheit für Differenzierungen hat. Niklas Luhmann hat "Sinn" als das "allgemeinste, nicht transzendierbare Medium für jede Formbildung" bezeichnet. Insofern ist mit dem Verweis auf Sinn als dem Gemeinsamen von Kirche und Kino noch nicht viel gewonnen. Luhmann hat darüber hinaus vermutet, dass der religiöse Rekurs auf die Sinnbedürftigkeit des Menschen, wenn schon nicht eine Art Taschenspielertrick, so doch zumindest eine zirkulöse Form der Argumentationsführung darstellt:

"Nach der Erfindung einer neuen Semantik der 'Kultur' und im Zuge einer vergleichenden Behandlung der 'Weltreligionen' und schließlich aller Religionen im 18. und 19. Jahrhundert entstehen neuartige Selbstbeschreibungsprobleme, die nicht mehr im Rückgriff auf besondere Dogmatiken oder Orthodoxien gelöst werden können. 'Dogmatik', 'dogmatisch', 'Dogmatismus' wird in der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation jetzt negativ konnotiert. Statt dessen sucht man nach neuen Möglichkeiten, den Sinn von Religion zu bestimmen - und findet sie in der Anthropologie.

'Dem Menschen' wird das Bedürfnis unterstellt, seinem Leben Sinn zu geben. Er möchte die Gewissheit haben, ein sinnvolles Leben zu führen oder jedenfalls das Gefühl der Sinnleere, der Sinnlosigkeit seines weltlichen Daseins zu überwinden. Religion wird nun als 'Angebot' begriffen, das auf diesen Sinnbedarf reagiert. Das kann und muss in Formen geschehen, die geschichtlich variieren und ihre Plausibilität aus den jeweiligen sozialen und kulturellen Umständen ziehen. Die Einheitsformel für diese Variation der Formen wird im subjektiven Erleben 'des Menschen' verankert und damit externalisiert. Sie passt sich damit einer Welt an, die als säkularisiert beschrieben wird, und stellt sich auf eine gesellschaftliche Kommunikation ein, die auch nichtreligiös gebraucht und verstanden werden kann. Entsprechend firmiert die Anthropologie als Philosophie, wenn nicht gar als Wissenschaft.

Dass es in der religiösen Zuschreibung eines Sinnbedarfs trotzdem um eine Selbstbeschreibung von Religion geht, ist leicht zu erkennen. Die alte Sorge um Heil und Erlösung kann fast bruchlos entdogmatisiert und in die neu konzipierte Sorge um Sinn überführt werden. Dabei ist 'der Mensch' eine Fiktion, der keine Realität entspricht. Die ungeheure Vielfalt individueller Erlebniswelten aller Zeiten wird systematisch verkannt, entsprechende Informationen werden systematisch unterdrückt oder 'vergessen'. Der 'dem Menschen' unterstellte Sinnbedarf ist schon die Deutung, auf die die Religion eine Antwort zu geben hofft. Die Problemlösung liegt im Formenschatz der Religion und in der Rede von 'Heil' und 'Erlösung' bereits vor, nur das Problem wird hinzuerfunden."[34]

Das bezeichnet Luhmann als "Gödelisierung des Systems" und führt aus: "niemand wird sich von der Aufrichtigkeit seines religiösen Glaubens dadurch überzeugen lassen, dass man ihm sagt, dies sei nötig, um seinem Leben Sinn zu geben. Auch insofern ist die Kommunikation dieses Angebots paradox und anfällig für Dekonstruktion. Der performative Vollzug einer solchen Kommunikation widerspricht dem, was sie konstativ behauptet."[35] Das macht die Frage nach dem Sinn nicht überflüssig, ist aber doch ein Warnung davor, im Sinnbedürfnis eine quasi religionsneutrale Fragestellung zu sehen, mit der man dann unbefangen Gemeinsamkeiten mit anderen kulturellen Bereichen suchen könnte.

Die humanitäre Erzählung

Eine weitere tragende Figur in der Arbeit von Jörg Herrmann ist, dass eine Gemeinsamkeit von Kino und Religion darin besteht, dass beide vom Erzählen leben und sich über das Erzählen tradieren.[36] Nun könnte man in einer weitreichenden Schlussfolgerung meinen, dass das Erzählen an sich bereits als religiöser Akt zu qualifizieren wäre. Die Erfahrung der Erzählung wäre dann als Reich-Gottes-Erfahrung zu deuten. Das würde dann aber für jede (gute) Kinoerzählung gelten, unabhängig von ihren Gehalten an expliziter und impliziter Religion. Es würde dann reichen, "Erzählung" als religiös relevant und belangvoll auszuweisen. Man müsste dann einräumen, dass kulturelle Werke auch wahre Worte "extra muros ecclesiae" sein könnten, oder "dass alle ernstzunehmende Kunst ... ein opus metaphysicum ist" (George Steiner), oder dass Kunst "sich zur Schöpfung gleichnisartig" (Paul Klee) verhält. Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass kulturellen Werken theologisch diese Zuschreibungen zukommen können.[37] Dass ästhetische Objekte zum Medium religiöser Erfahrung werden können, zeigt ein Blick auf die neutestamentlichen Gleichnisse: "Auch die Parabel Jesu gibt sich als ästhetisches Objekt zu erkennen. Sie ist ein poetisches Kunstwerk: die Miniaturausgabe eines in Erzählung gefassten Bühnenstücks mit stilisiertem Handlungsgefüge und eigenwilliger Figurenanordnung."[38] Auch die Gleichnisse Jesu erweisen sich im literaturwissenschaftlichen Sinn als "autonom"[39], seine Erzählungen nehmen die Aufmerksamkeit des Rezipienten vollständig in Anspruch, ohne dass der Zuhörer auf einen außerhalb der Erzählung selbst liegenden Referenzrahmen verwiesen werden müsste.[40] Primär verweist das Gleichnis wie auch jedes andere Kunstwerk als ästhetisches auf sich selbst und negiert jede außerhalb seiner selbst liegende Bedeutung. Erst im zweiten Schritt wird deutlich, dass in dieser Selbstreferenz auch eine andere Referenz zur Sprache kommen kann. Was die Gleichnisse Jesu von anderen ästhetischen Objekten unterscheidet, ist die Art ihrer sekundären Referenz. Während die sekundäre Referenz säkularer Objekte als das Phantastische (das Mögliche im Sinne des "gesteigerten" Wirklichen) oder das Utopische (das Mögliche als das noch nicht realisierte Wirkliche) bestimmt werden kann, qualifiziert die Referenz der Gleichnisse Jesu eine größere Bestimmtheit: "die Möglichkeit, die sich in ihr geltend macht, geht ... die Wirklichkeit unbedingt an, und zwar als eine Kraft, die sie zu verwandeln vermag."[41] Daher entspricht der religiös-poetischen Form auch eine bestimmte Rezeptionsform: der Glaube. Es dürfte nun einsichtig sein, dass säkulare kulturelle Werke nach ihrem Selbstverständnis davon "durch Welten getrennt sind"[42]. Dennoch wird man säkulare kulturelle Werke dort als "Gleichnisse des Reiches Gottes" aufnehmen können, "wo sie in einem selbstkritischen Prozeß auf die besondere Geschichte Gottes mit den Menschen ... bezogen werden" können[43], genauer: man wird sie dort ganz undogmatisch aufnehmen können, wo sie gerade in ihrem ästhetischen Charakter dazu beitragen, die "christliche Erkenntnis zu festigen, zu erweitern, zu präzisieren, dem christlichen Leben neuen Ernst und neue Heiterkeit, der Ausrichtung der christlichen Botschaft neue Freiheit und neue Konzentration zu verleihen".[44]

Wenn aber nicht das Erzählen als solches das Interesse am Kino begründet, dann muss das Augenmerk darauf liegen, was erzählt wird, dann geht es mindestens um das, was man die "humanitäre Erzählung" nennen könnte. Der Wissenschaftler und Journalist Michael Ignatieff hat in einem Aufsatz über die Schwierigkeiten heutiger "humanitärer Erzählung" nachgedacht: "Diese Erzählung: dass wir unseres Bruders Hüter sind, dass alle Menschen einer Gattung angehören, dass wir, wenn wir helfen 'können', helfen 'müssen', ist aus der jüdisch-christlichen Idee der Gleichheit aller Menschen hervorgegangen, die am Beginn des 16. Jahrhunderts im europäischen Naturrecht säkularisiert wurde. Das Fernsehen erlaubt uns bestenfalls, diese alte moralische Geschichte wirkungsvoller zu erzählen. Das Medium ist nur ein Medium. Das Gewissen des 20. Jahrhunderts hatte seine moralische Charta - die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - schon geschrieben, bevor die ersten Fernsehgeräte in die meisten unserer Wohnzimmer Einzug hielten. Die Fernsehteams würden überhaupt nicht aus dem Kosovo oder Kabul berichten, wenn es diese vorangehenden moralischen Erzählungen nicht gäbe."[45] Nach Ignatieff leisten die Massenmedien nur eines: "Nach-Erzählungen".

Das Christentum ist nun im eben beschriebenen Sinne unbestreitbar (auch) eine moralische, eine humanitäre Erzählung. Das erweist sich selbst und vielleicht gerade dort, wo sie ins Zivilreligiöse hinüberreicht, das heißt nicht mehr in einem engeren Sinne an ein spezifisches religiöses Bekenntnis gebunden ist.

Die Frage ist, ob das Kino, das populäre zumal, ebenfalls einen Beitrag zu dieser humanitären Erzählung leistet, leisten kann, der mehr ist, als bloße Nach-Schöpfung. Vielleicht kann dieses Medium tatsächlich nur dort eine Moralbeziehung "erschaffen", wo eine solche schon besteht, das heißt es kann verstärken, fokussieren, abschwächen, aber nicht generieren. Im Blick auf die humanitäre Erzählung wäre das Kino dann als "parasitär" zu bezeichnen.[46] Es gibt in Jörg Herrmanns Studie wiederholt starke Indizien in diese Richtung, die sich so verstehen lassen, dass das Kino weniger sinnproduzierend, als sinnausbeutend tätig ist.[47]

Milieu-Segmentierung

Und schließlich stellt sich die Frage nach den spezifischen Zielgruppen des Kinos und ihrer Bedeutung für die Kirche. Schon vor über 75 Jahren schrieb Friedrich Niebergall über Kultus und Kunst:

"Irren wir uns nur nicht: mögen wir noch soviel Speck für die intellektuellen und ästhetischen Mäuse in die Falle tun, wir fangen sie doch nicht, sicher gehen diese Nascher bald wieder hindurch. Jedenfalls wollen wir uns hüten, unser Kirchenvolk, das singen, beten und eine gute Predigt hören will, auch noch zu verlieren, indem wir ihm - Kaviar vorsetzen, wo es Brot will ...
Freilich wenn es Kaviar gibt, warum soll man ihn nicht anbieten? Wir wollen in kleineren Kreisen das Bedürfnis nach schönen Feiern befriedigen, die die Gaben Gottes im Gewand der Kunst anbieten. Nur dass es nicht eine Anbetung von schönen Hüllen ohne Inhalt werde!"[48]

Niebergalls Apercu kann als Hinweis auf die Notwendigkeit der Betrachtung der sozialen Strukturierung und damit der Reichweite kultureller Aktivitäten verstanden werden. Die Frage lautet: Wer geht ins Kino mit welchem Interesse? Dem Wunsch der Filmförderungswirtschaft nach mehr Absatz und neuen Zielgruppen verdanken wir eine jüngst erschienene Studie, die der Bedeutung des Kinos für die bundesrepublikanische Bevölkerung nachgeht und zu verschiedenen notwendigen Differenzierungen verhilft.[49]

Das Überraschende vorweg: anders als Herrmann es noch - im Interesse des Kinos als Leitmedium - skizziert, erweist sich das Kino als Freizeitveranstaltung für eine Minderheit. Im Jahr 2000 waren "nur 37% der betrachteten Bevölkerung tatsächlich im Kino", 31% der Befragten gehen sogar nie ins Kino. Im Vergleich zu anderen Freizeittätigkeiten so hebt die Studie hervor, spielt der Kinobesuch "eine eher untergeordnete Rolle". Und weiter: "Der Anteil der Kinogänger in der Bevölkerung entspricht in etwa dem Anteil der Theater- oder Konzertbesucher, allerdings ist die Kinobesuchsintensität deutlich höher als die Theater- und Konzertbesuchshäufigkeit."

Die Erwartungen des Publikums an die Funktion des Kinos hat die Studie im folgenden Schaubild abgedruckt, das ziemlich aussagekräftig ist:

Deutlich wird hieraus auch, warum explizite Religion zumindest in Deutschland nicht so häufig vorkommt: es ist nicht verkaufsfördernd, denn das Letzte, was deutsche Kinobesucher von einem Film erwarten, ist, dass er spirituell ist oder sich mit moralischen bzw. philosophischen Fragen abgibt. All das, was zu den Leitwerten von Religion gehört, wird von den Befragten im Blick auf das Kino auf die unteren Ränge verwiesen.

Die Segmentierung der Gesellschaft, die die Studie insgesamt beschreibt, teilt die Bevölkerung im Blick auf die Freizeitaktivitäten in Häusliche, Anspruchsvolle, Irritierte, Experimentierer, Selbstmanager, Spaßsucher und Freizeitgenießer. Die Spaßsucher bilden dabei das Stammpublikum des Kinos, während die Freizeitgenießer zum weiteren Zielpublikum gehört, das aber nicht so häufig ins Kino geht.

Ist das Kino also die Sinnmaschine für Spaßsucher und Freizeitgenießer? Betrachtet man die artikulierten Erwartungen dieser Gruppen, so sind hier Fragen angebracht: "Sie gehen nicht ins Kino, um sich zu entspannen oder gar zu beruhigen. Sie erwarten im Kino keine Kunst und keine Bildung. Sie wollen spannende, aufregende und witzige Filme sehen und dabei gerne auch die Grenzen des Normalen überschreiten." Im Rahmen des Segments, das am häufigsten ins Kino geht, ist die Sinnfrage relativ uninteressant - was natürlich nicht heißt, dass sie für derartige Fragen unempfänglich wären. Aber es sind für sie nur sekundäre oder tertiäre Fragen, wenn sie sich ins Kino begeben. Für die restlichen Gruppierungen lässt sich aber klar zeigen, dass sie ihre Sinnperspektivierungen nicht dem Kino entnehmen, weil dieses weder im zentralen Blickfeld ihrer Interessen liegt noch jene Sinnangebote anbieten kann, an denen man interessiert ist. Wenn das Kino also eine Sinnmaschine ist, ist sie dies für einen doch klar eingrenzbaren Teil der Bevölkerung, der in sich noch einmal (nach Genres) zu differenzieren ist.

Ist das Kino dabei, die Kirche als Sinnstifterin zu ersetzen? fragt der Klappentext von Jörg Herrmanns Studie. Im Blick auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands wird zumindest auf absehbare Zeit die Antwort wohl weiterhin lauten: Nein.

Anmerkungen
  1. Vgl. J. Herrmann, Twelve Monkeys. Zukunft im Film (Heft 3), Populäre Kultur als Fundamentalismus für alle. Eine Untersuchung zur "Dramaturgie des populären Films" (Heft 6), Religiöse Erfahrung im Feld des Ästhetischen. Zu den Erfahrungspotentialen der Kulturorte Kirche, Kunsthalle und Kino (Heft 8).
  2. J. Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 2001. Im Folgenden werden alle Verweise auf dieses Werk mit Seitenangaben in runden Klammern belegt.
  3. I. Kirsner, Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen, Stuttgart 1996 (Klappentext). Vgl. auch ihren Artikel im Magazin für Theologie und Ästhetik: Film und Kino. Ergänzungen zum Impulspapier "Gestaltung und Kritik" (Heft 6)
  4. Vgl. J. Herrmann, Religiöse Erfahrung im Feld des Ästhetischen. Zu den Erfahrungspotentialen der Kulturorte Kirche, Kunsthalle und Kino (Heft 8).
  5. Der von Herrmann unterstellte Wechsel zu einer kulturhermeneutischen Neubestimmung der Praktischen Theologie (42) hat insofern nicht zu einer Lösung, sondern zu einer Verschärfung der Probleme beigetragen, da nun weitere un(ter)bestimmte Faktoren die Analyse erschweren.
  6. Selbst unter Bezug auf dieselben Theoretiker ist inzwischen der Spielraum der Interpretation so groß, dass man nicht mehr zu homogenen Schlussfolgerungen kommt. Das gilt zum Beispiel im Blick auf Clifford Geertz, den auch Herrmann positiv, wenn auch in anderer Perspektive beerbt. (s.u. Anm. 19)
  7. Der dann doch nicht mehr ganz so unübersichtlich ist, insofern er sich zu nur drei "Megatrends" verdichten lässt. Im Rahmen des radikalen Pluralismus befinden wir uns demnach im Übergang von der "Ego-Ära" zur "Soft-Individualismus"-Phase. Unter radikaler Pluralität stelle ich mir zugleich aber auch ihre Nicht-Mehr-Beschreibbarkeit in allgemeinen Kategorien vor. Davon kann in der vorliegenden Arbeit aber keine Rede sein. Die radikale Pluralität hat das Begriffsgefüge "Liebe, Natur, Erhabenes, Sinn, Mythos" etc. offensichtlich noch nicht erfasst. Ganz im Gegenteil lassen sich hier offensichtlich diskurs- und segmentübergreifend Aussagen machen. Das scheint mir ein impliziter Widerspruch zu sein.
  8. Unbestreitbar ist die Zeit der Entdeckung des Ästhetischen, zugleich aber auch die Zeit der "Wucherung industriell hergestellter Hässlichkeit" (Beat Wyss). Die "Entdeckung des Ästhetischen" scheint mir daher eher eine akademische, denn eine populärkulturell verankerte zu sein. In der gleichen Zeit, in der die Entdeckung des Ästhetischen sich vollzogen hat, wurden die ästhetischen Standards Hollywoods (die man nicht mit technischen Standards verwechseln sollte) radikal herabgeschraubt. Gerade ästhetisch orientierte Filmemacher wie Stanley Kubrick haben auf diese Entwicklung verwiesen.
  9. An dieser Stelle hätte man sich eine vertiefte Auseinandersetzung gewünscht, zumal dieses Thema ja die Grundlagen der Untersuchung berührt.
  10. Dieser Bereich scheint mir der unerforschteste zu sein. Aus der Tatsache, dass für Jugendliche das Kino eine herausgehobene Bedeutung besitzt, lässt sich ja keinesfalls schließen, dass es damit auch "ein relevanter Faktor im Prozeß der Identitätsbildung" ist. Das macht aus quantitativen Argumenten unter der Hand und ohne weitere Begründung qualitative. Wie will man zudem nachweisen, dass unter dem Aspekt "radikaler Pluralität" das Mainstream-Kino beobachtbare qualitative Einflüsse auf die Identitätsbildung hat?
  11. Die empirische Argumentation von Jörg Herrmann ist dabei nur eine scheinbare. Der Verweis auf Hamburg als Exempel der Entwicklung der Bedeutung von Religion ließe sich leicht mit der weltweiten Zunahme von Religion konterkarieren. Zwar hat das Christentum von 1900 bis zum Jahr 2000 1,2 Prozentpunkte an der Weltbevölkerung verloren, der Anteil wird aber im Laufe der nächsten Jahre wieder auf Werte steigen, die höher sind als am Anfang des 20. Jahrhunderts (so die Religionsstatistiker David Barrett und Todd Johnson). Hamburg ist - wie auch Berlin - nicht die religiöse Zukunft der Welt, sondern ein atheistisch bzw. diffus religiöses Biotop, über dessen Bedeutung für die Religionskultur der Menschen sich trefflich streiten lässt. M.E. tendiert sie eher gegen Null.
  12. An dieser Stelle wird deutlich, dass Herrmann immer noch von einem Modell kultureller Einheit und nicht von radikaler Pluralität ausgeht. Im Rahmen eines Modells radikaler Pluralität ließe sich vom kulturellen Bedeutungsverlust des Religiösen gar nicht sprechen. Nur im Blick auf eine wie auch immer unterstellte Gesamtkultur macht diese Trope Sinn. Dann wäre ihre Pluralität aber nicht radikal (die Wurzel betreffend), sondern nur marginal. Weiterhin wäre mit Niklas Luhmann zu sagen, dass von einem Bedeutungsverlust des Religiösen eigentlich nicht gesprochen werden kann. N. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt 2000, S. 279. Luhmann verweist an dieser Stelle auf Luc Ferry, der vorsichtiger von einem Ende des theologisch-kulturellen Diskurses spreche. Das hätte aber wiederum Rückwirkungen auf das Konzept der Arbeit von Herrmann.
  13. Die entscheidende Frage lautet: lässt sich aus der Kultur etwas religiös/theologisch Relevantes erheben, das wir ohne sie nicht wahrgenommen hätten? Es geht nicht darum, ob etwa in der Kultur die gleichen Fragen und Antworten wie in der Religion oder in der Theologie auftauchen, sondern darum, ob das Kino/die Kultur religiöse(!) Einsichten bietet, die andere sind, als die, die wir im Rückbezug und in der Vergegenwärtigung der biblischen Überlieferung gewinnen würden. Verf. Annäherungen. Zum theologischen Umgang mit Kinowelten, Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 3. http://www.thomag.de/3/am11.htm
  14. Karl Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, ZZ 1933, S. 297ff.
  15. Unbestreitbar hat das Hollywood-Kino diese Topoi aber zeitgenössisch neu re-inszeniert.
  16. In der Auseinandersetzung zwischen Hans Martin Gutmann und Jörg Herrmann (s. S. 36, 48, 210) stehe ich ersterem insofern näher, als mir die Deutung von Herrmann, das Hollywood-Kino sei nicht deshalb erfolgreich, weil es die jüdisch-christliche Erzählwelt, sondern weil es ihnen zugrundeliegende universale Grundkonflikte aufbereite, nicht einleuchtet. Mit Gutmann gehe ich von einer spezifischen, das heißt differenzierbaren Botschaft der christlich-jüdischen Überlieferung aus, die sich durch allgemeine Strukturen nicht substituieren lässt. Dazu ist es nicht notwendig, dass jeder Film explizite Religiosität im Sinne der jüdisch-christlichen Erzählkultur transportiert, sondern es reicht, aufzuweisen, dass im Hollywood-Kino Brüche entstehen, wenn nicht eine bestimmte heilsgeschichtliche Strukturierung abläuft. Und genau diesen Nachweis führt die Arbeit von Herrmann - sozusagen wider Willen.
  17. Darauf verweist im Kontext des Fernsehens Michael Ignatieff, Das Fernsehen und die humanitäre Hilfe; in: Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Krieger ohne Waffen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, Frankfurt 2001, S. 281-302. (Original: The Stories We Tell. Television and Humanitarian Aid).
  18. Eco, der ja eigentlich bahnbrechend in der wissenschaftlichen Behandlung populärkultureller Phänomene war, spielt leider in Herrmanns Arbeit überhaupt keine Rolle.
  19. Clifford Geertz, "Person, Zeit und Umgangsformen auf Bali"; in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, S. 133-201, hier S. 196f.
  20. Vgl. dazu Umberto Eco, Kritik der Ikonizität, in, ders., Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1989, S. 54ff.
  21. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2001, S. 312f.
  22. Für den Bereich der Gleichniserzählung vgl. etwa Wolfgang Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu: Eine hermeneutische Einführung. Göttingen 1985.
  23. Vgl. dazu Eilert Herms: "Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes." In: Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute. Hg. von Beck/Schmirber/Volp. München 1984. S. 242-259.
  24. E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, a.a.O., S. 245.
  25. ebenda, S. 249f.
  26. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2001, S. 23.
  27. TRT, Art. Hermeneutik
  28. Die Frage, die sich hier z.B. stellt, wenn denn "Independence Day" eine Apologie des gerechten Krieges ist, warum dann gerade die Regisseure dieser Filme so verstört auf die Ereignisse in New York reagiert haben. Stimmt Herrmanns Diagnose, hätte "Independence Day" zu dem Propagandafilm schlechthin werden müssen. Statt dessen tut Hollywood kollektiv Buße und gelobt, keine derartigen Szenarien mehr zu entwerfen. Wenn Kino aber Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung bedeutet, wie erklärt sich dann diese Reaktion?
  29. Herrmann selbst verweist darauf und meint nur, dass dieses Phänomen durch das Kino zu einem massenkulturellen wurde. Dazu müsste man aber meines Erachtens die Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts mit untersuchen, die bereits deutlich vorher diese Spur gelegt hat.
  30. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 3/1999, S. 147. Das gilt auch im Blick auf Lyotards Beerbung des Erhabenen. Anzudeuten, dass es etwas anzudeuten gibt, war auch in der Romantik nur noch ein Stilmittel. "Sobald das Sublime Form annimmt, gewinnt es eine andere Seite, von der aus es als modisch und als lächerlich beobachtet werden kann." Ebd.
  31. Beat Wyss: "Eine Ästhetik der Geisterbahn. Mitleid und Schrecken im Erlebnispark der Kunst - nach der documenta 9", FAZ 26. 11. 1992, S. 36.
  32. Albrecht Grözinger: "Theologie und Kultur. Praktisch-Theologische Bemerkungen zu einem komplexen Zusammenhang". ThPr 24, 1989, S. 201-213, hier S. 209.
  33. Hier reiht sich Herrmanns Studie in die Arbeiten anderer junger Theologen ein, die sich seit etwa zehn Jahren intensiv mit der Populärkultur auseinandersetzen.
  34. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, a.a.O., S. 339f. (Die Hervorhebungen wurden nachträglich hinzugefügt; A.M.)
  35. Ebd.
  36. Vgl. auch Jörg Herrmann, Kino und Kirche. Für die Annäherung zweier Erzählgemeinschaften; in: Kirchen - Kulturorte der Urbanität, Hamburg 1995, S. 39-52.
  37. K. Barth, KD IV/3, 130f.: Gerade (die Gemeindemitglieder) können, dürfen und müssen darauf gefasst sein, 'Gleichnissen des Himmelreiches' in jenem Vollsinn des biblischen Begriffs auch dort zu begegnen: nicht nur im biblischen Zeugnis also und nicht nur in den Veranstaltungen, Werken und Worten der christlichen Kirche, sondern auch in der Profanität, d.h. dann aber in wunderbarer Unterbrechung der Profanität des Weltlebens". Vgl. A. Grözinger, Christologie und Ästhetik. Die Lichterlehre Karl Barths in ihrer Bedeutsamkeit für die Praktische Theologie in: Seim/Steiger (Hg.), Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik. FS Rudolf Bohren, München 1990, S. 40-46.
  38. W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 2/1990, S. 12.
  39. Vgl. D.O. Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, 1970, S. 78.
  40. W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu, a.a.O., S. 64.
  41. Ebenda, S. 162f. und S. 164.
  42. Ebenda, S. 165.
  43. A. Grözinger, Christologie und Ästhetik, a.a.O., S. 43.
  44. K. Barth, KD IV,3, S. 151. Barth verweist darauf, dass die Wahrnehmung der wahren Worte "extra muros ecclesiae", unter die auch ästhetische Objekte gezählt werden könnten, in der Regel nur die Sache Weniger sein könne und deshalb nicht kanonisiert und fixiert werden und damit dem Rest der Gemeinde aufgezwungen werden dürfe. A. Grözinger weist darüber hinaus zu Recht darauf hin, dass Karl Barth es immer unterlassen hat, mögliche Worte extra muros ecclesiae konkret als solche zu benennen, vgl. A. Grözinger, Christologie und Ästhetik, a.a.O., S. 46.
  45. Michael Ignatieff, Das Fernsehen und die humanitäre Hilfe, a.a.O., S. 286f.
  46. Mit allen auch positiven Konnotationen, die ja gerade im Unterhaltsamen des Parasiten liegen. Vgl. Ulrich Enzensberger: Parasiten. Ein Sachbuch. Frankfurt 2001.
  47. Michael Ignatieff diskutiert unter dem Stichwort "Synekdoche" des weiteren, ob die Form der Identifikation, die das Medium nahe legt, nicht auch zu weiteren Verzerrungen führen muss. "Die mittels der Synekdoche geschaffene Identifikation ist intensiv, aber oberflächlich". Dem müsste z.B. im Blick auf die Titelfiguren von Titanic in einzelnen Befragungen weiter nachgegangen werden.
  48. D. Fr. Niebergall, Die gegenwärtigen kultischen Reformen, gemessen am Evangelium in: Kultus und Kunst. Beiträge zur Klärung des evangelischen Kultusproblems, hg. von C. Horn, Berlin 1925, S. 23.
  49. Neckermann/Blothner, Das Kinobesucherpotential 2010 nach sozio-demographischen und psychologischen Merkmalen, Berlin 2001 http://www.ffa.de/Publikationen/kinobesucherpotential_2010.pdf Alle folgenden Zitate stammen aus dieser Studie.

© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/am35.htm

Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service
Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Kino, Gütersloh 2001

Inge Kirsner, Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen, Stuttgart 1996