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Magazin für Theologie und Ästhetik


Kirche in der urbanen Welt der Moderne

Wilhelm Gräb

Kirche im kulturellen und religiösen Pluralismus

Die beiden jüngsten, inzwischen jedoch institutionalisierten Großveranstaltungen Berlins sind die Love-Parade im Juli und der Karneval der Kulturen an Pfingsten. Trotz schlechten Wetters war dieses Jahr nach dem Karneval der Kulturen in den Zeitungen von Hunderttausenden zu lesen, die die Straßen Kreuzbergs säumten. Zu lesen war von einer nahezu unüberschaubaren Vielzahl von Gruppen, die sich in einem bunten Zug präsentierten und Einblick in die Vielzahl von Kulturen, Volksgruppen und Religionen gaben, die heute in Berlin leben und zur kulturellen Bereicherung in dieser Stadt beitragen.

Die "Love-Parade", bald danach im Juli, das war wieder der Event der Popkultur und der Technojugend. Die Love-Parade, die nun schon seit vielen Jahren Hunderttausende von Jugendlichen einmal im Jahr nach Berlin zieht, ist der Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls, das für die zeitgenössische Erlebnisgesellschaft typisch ist: Steigerung körperbezogener, übersprachlicher Erlebnisintensität. Flusserfahrung, spirituelle Verschmelzung mit einem größeren Ganzen in der Musik, in der Bewegung, dem Rhythmus. Ideologiearm das Ganze, erst sekundär mit solchen Vorstellungen vermittelt, wonach es um Liebe und Frieden geht, um die Erfahrung von Verbundenheit jenseits aller Gegensätze, welche die Menschen aufgrund ihrer sozialen, politischen und auch religiösen Zugehörigkeiten voneinander trennen.

Der "Karneval der Kulturen", eine der jüngsten Großveranstaltungen in Berlin, ist demgegenüber ein deutliches Zeichen für den langsam wachsenden politisch-kulturellen Konsens darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass das Leben-Können in vielfachen ethnischen, kulturellen und religiösen Traditionen gerade zum Reichtum einer modernen Gesellschaft gehört. Auf Straßenfesten wie dem "Karneval der Kulturen" wiederholt sich heute das Pfingstwunder. Es kommt zur Begegnung zwischen den Kulturen, Sprachen und Religionen. Es finden ethnische Minderheiten die Gelegenheit sich in der Zugehörigkeit zur urbanen Kultur Berlins darzustellen. Es entwickeln sich kooperative Kulturformen mit multiethnischem und auch multireligiösem Charakter. Auch einige Kirchengemeinden Kreuzbergs haben sich am "Karneval der Kulturen" beteiligt. Vor allem die große, einst in der wilhelminischen Ära errichtete Heilig-Kreuzkirche, die bereits vor 10 Jahren zu einem Zentrum der Begegnung von Kulturen und Religionen umgebaut worden war, übernimmt eine führende Rolle im Zuge der neu entstehenden multi- und transkulturellen Aushandlungen und Praktiken.

Die Heilig-Kreuzkirchengemeinde macht m.E. ein Stück weit vor, wie sich das Christentum in der modernen, urbanen Welt neu verorten und seine veränderte Rolle ausbilden kann. Der Weg, den die Heilig-Kreuzkirchengemeinde in den ca. 100 Jahren ihres Bestehens gegangen ist, bildet diesen Wandel gleichsam in sich ab, den Weg von einer kulturhegemonialen christlichen Religion im Kaiserreich, von hegemonialen Kulturformen überhaupt zu spätmodernen Kulturverhältnissen, die durch Differenz, Heterogenität, Pluralität und Individualität gekennzeichnet sind.

Wird die Kirche mit ihrer Verkündigung, mit ihrem Unterricht, ihrer Seelsorge diesen strukturellen Wandel auf breiter Front mit vollziehen oder nicht? Von der Antwort auf diese Frage hängt m.E. ab, ob die Kirche eine offene und öffentliche Kirche im urbanen Raum sein bzw. werden kann oder nicht. Gelingt der Kirche, damit dem offiziellen, verfassten Christentum dieser strukturelle Wandel von einem kulturhegemonialen Selbstverständnis und einer kulturhegemonialen Verkündigungs- bzw. Religionspraxis hin zu einer Verkündigungspraxis, die sich als ein attraktiver Faktor in der durch kulturelle und religiöse Vielfalt gekennzeichneten Lebenswelt begreift. Das ist m.E. die entscheidende Zukunftsfrage von Kirche und Christentum.

De facto haben in den modernen Gesellschaften Europas und Amerikas die großen Religionen, unter ihnen das Christentum und die Kirchen, seit längerem schon ihre einst kulturhegemoniale Stellung verloren. Das geht nicht schon aus den rückläufigen Mitgliederzahlen hervor - in Amerika sind sie gar nicht rückläufig und doch gilt dort vielfach dasselbe. Es liegt daran, dass die Religionen, dass Christentum und Kirchen nicht mehr die Rahmenbedingungen für die Kultur als Lebenswelt und die gesellschaftlichen Funktionssysteme vorgeben. Das Christentum und seine Kirchen prägen nicht mehr die Lebensverhältnisse der großen Massen. Sie strukturieren das alltägliche Leben nicht mehr, wie das in früheren Zeiten der kirchliche Festkalender, kirchliche Sitte und kirchlicher Brauch getan haben. Die verfassten Religionen verleihen dem Leben großer Massen nicht mehr die Struktur und den Sinn. Sie geben ihm keine transzendierenden Perspektiven mehr. Sie tun dies jedenfalls nicht mehr im großen Stil, nicht mehr dadurch, dass sie zugleich eben die Gesellschaft auf einer christlich-religiös fundierten Basis von Werten und Normen grundieren, strukturieren und integrieren.

Dass das Christentum seine kulturhegemoniale Stellung im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse de facto eingebüßt hat, kann man sich am Beispiel der Mission klar machen. Die Mission war ein Motor der Globalisierung bis in die Moderne hinein. Heute wird Globalisierung durch ökonomische Prozesse, die Ausbreitung der Wissenschaften und Technologien, durch Formen überstaatlicher Politik, durch das Internet und die Pop-Kultur vorangetrieben. Und umgekehrt geschieht heute Mission, die Verbreitung des christlichen Glaubens auch im eigenen Land durch die Präsenz der Kirchen vor allem im Bildungssystem, durch den Religionsunterricht in den Schulen, die Präsenz in den Medien, durch Christen in der Politik, durch Diakonie und Sozialarbeit, durch Mitarbeit an der Verbesserung der ökonomischen Lebensbedingungen in der 3. Welt, durch Armutsbekämpfung und medizinische Versorgung, durch "Brot für die Welt".

Die Verhältnisse haben sich umgekehrt. Wurden in früheren Zeiten Kulturen, also Lebenswelt und die Lebensformen der Menschen, von den Religionen normiert, so werden heute, unter den säkularen Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne, Religionen danach beurteilt, was sie für die jeweilige Kultur, in der sie präsent sind, bedeuten und leisten. Kulturen werden nicht mehr religiös, sondern Religionen werden kulturell beurteilt, nach dem Maß ihrer Lebensdienlichkeit. Das ist selber eine säkulare Auffassung vom Gang der Dinge. Sie scheint mir jedoch unausweichlich. Dies ist der dominante Trend in modernen Gesellschaften, auch wenn sich Gegenbewegungen, vor allem in der islamischen Welt beobachten lassen und es gewiss noch lange auch Gesellschaften mit religiösen Rahmenbedingungen geben wird.

Wird es den Kirchen gelingen, sich konstruktiv auf diese Situation einzustellen? Daran entscheidet sich m.E. ihre Zukunftsfähigkeit in modernen Gesellschaften.

Antwort: Es kann gelingen, wenn auch die Kirche sich kulturtheoretisch und kulturpraktisch umstellt, weg vom alten kulturhegemonialen, wahrheitsabsolutistischen Selbstverständnis hin Forum der Verständigung zwischen Kulturen und Religionen, Lebensdeutungen und Lebenseinstellungen, Sinnmustern, Normen und Werten.

Wie kann das gelingen? Indem die Kirchen es lernen, von den Individuen und ihren Lebensinteressen her zu denken. Die zentrale Frage für die Konzeption kirchlicher Arbeit müsste werden: Wo und wie wird für die Individuen, für ihre Lebensführung im Alltag der Welt interessant und bedeutsam, was die Kirche mit ihre Botschaft, ihren Symbolen und Ritualen zu bieten hat.. Das müsste m.E. die primäre Frage werden, um von ihr her die christliche Tradition in ihrer Gegenwartsrelevanz zu reformulieren.

Abschied zu nehmen gilt es von der Auffassung, es gäbe Inhalte der christlichen Verkündigung, die unabhängig von den zeitlichen und lebenspraktischen Interessen der Menschen gleichsam absolut, übergeschichtlich vorgegeben, zu predigen und zu glauben sind. Was die Inhalte einer die Menschen ansprechenden und die Kirche zu ihnen hin öffnenden Verkündigung sind, kann und will in der christlich-religiösen Interpretation ihrer gegenwärtigen Lebenswelt, der religiösen Fragen vor allem, die sich in ihr stellen, gefunden werden.

Die eher unübersichtliche, multikulturelle und multireligiöse Situation in den urbanen Zentren moderner Gesellschaften verlangt nach einem neuen theologische Religionsdenken und neuen Formen kirchlicher Praxis. Dieses religionstheologische Denken wird sich im Horizont eines Verständnisses von Kultur und Gesellschaft bewegen müssen, dem das Glauben, die religiöse Sinndimension als Horizont der Vergewisserung im Lebenssinn und der Formung von ethischen Lebensorientierungen konstitutiv, aber als ein kultureller Faktor neben anderen, auch religiös anderen, zugehört. Religion, die religiöse Sinnthematisierung, dann die Fragen der Wertorientierung in der Gesellschaft werden ein konstitutiver Bestandteil auch der Kultur moderner Gesellschaft bleiben. Und eine kirchliche Praxis, die dies erkennt, wird versuchen, sich mit dem kirchlichen Veranstaltungsgebot zu einem selbstverständlichen Teil kultureller Praxis zu machen. Sie wir die Kommunikation ermöglichen zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, mit bekennenden Atheisten ebenso wie mit religiös Gleichgültigen und Agnostikern.

Das kann auf Diskussionsforen und mit Vortragsreihen geschehen. Dann ist da der Gottesdienst in den altehrwürdigen Innenstadtkirchen. Sie sind mit der Kirchenmusik seit jeher Ort der Pflege einer besonderen Ästhetik und Christentumskultur. Die Gestaltung der kirchlichen Räume durch Kombination der überlieferten Christentumskultur und ihrer ikonischen Zeichen mit Werken moderner bildender Kunst kommt heute hinzu. Die Stiftung St. Matthäus auf dem Kulturforum ist ein gelungenes Beispiel. Der Dom hat seine eigene Ästhetik, die nicht jedem gefällt, aber gerade Touristen besonders anzieht - das ist eine Berliner Besonderheit.

Meine These ist, Kirche in der urbanen Welt der Moderne hat heute am ehesten dann eine Chance, öffentliche Kirche zu bleiben, wenn sie sich auf ihre religiöse Kernkompetenz besinnt. Diese liegt in dem ihr eigentümlichen Potential zu einer sich auf letzte Sinnhorizonte besinnenden Lebensdeutung, einer auch ästhetisch ansprechenden Inszenierung dieser Lebensdeutung, in der Kommunikation über die immer strittigen und vielspältigen lebensführungspraktischen Konsequenzen, die aus der christlich-religiösen Lebensdeutung und -einstellung erwachsen. Kurz gesagt, Kirche hat dann eine Chance öffentliche Kirche zu bleiben, wenn sie ihre Verankerung in der Lebenswelt der Menschen behält und d.h., wenn sie sich ihren ethisch-religiösen Sinn- und Orientierungsbedürftigkeiten öffnet, wenn sie kompetente Begleiterin auf der Suche nach dem Lebenssinn ist.

Kirche für die Religion der Individuen

Die Kirche wird offene und öffentlich Kirche bleiben bzw. wieder werden, wenn sich die Menschen in ihr und durch sie auf ihre mit den materiellen Dingen des Lebens nicht zu befriedigende Sehnsucht nach Sinn angesprochen finden.

Die Popkultur macht das der Kirche vor. Den Deutungsraum z.B., innerhalb dessen zum Bewußtsein kommen kann, dass das eigene Leben im Erlebnis und im Konsum nicht aufgeht, wo ein Gefühl dafür sich bilden kann, dass es mehr als alles geben muß, diesen religiösen Deutungsraum eröffnen die "Toten Hosen" mit ihrem Song: "Warum werde ich nicht satt?" Ein Song, in dem sich das Ungenügen an der Erlebnisgesellschaft artikuliert, die Sehnsucht nach einer anderen, spirituellen Dimension, nach tiefer Verbundenheit, nach einem substantiellen Ethos, das Verlangen nach Kontakt mit dem Unbedingten. Wir haben sie, diese Gesellschaft, weil wir im materiellen Wohlstand leben. Jetzt, nachdem sich in mehr als 50 Jahren Wohlstandssteigerung in der westlichen Welt die elementaren Fragen der Daseinssicherung und des Überlebens nicht mehr stellen. Jetzt müssen ständig neue Anreize geschaffen werden, damit man das eigene Leben spürt, das Gefühl hat, es lohne sich zu leben. Doch das geht ins Unendliche fort. Und vor allem, es bleibt immer ein schaler Geschmack zurück, etwas verpasst zu haben. Die Dinge des Konsums, auch die Parties, die Drogen, der Sex können die Frage nicht beantworten, ob das Leben wirklich einen Sinn hat. Sie verlangen immer nach mehr. Da ist eine unstillbare Sehnsucht. "Warum werde ich nicht satt?"

Die Wiederkehr solch religiöser Sehnsucht geschieht ständig mitten in unserer Alltagskultur. Die eindrückliche Symbolisierung von Identitätsmustern, Gesinnungsbildung und Gefühlspflege passieren vor allem in den Daily-Soaps des Fernsehens, in den Filmen des großen Hollywood-Kino. Die Reality Soap "Big Brother" etwa inszenierte die Attraktivität des normalen Alltags mit seinen Beziehungskrisen, dem Gewinn zugleich, den man für die Arbeit an der eigenen Identität durch den Austausch mit anderen hat.

Der Titelsong von Big Brother, der weit oben auf den Charts stand, brachte die Botschaft der Sendung treffend zum Ausdruck. Es ging dort um Wege, die eigene Identität zu finden, ein starkes Selbst aufzubauen, Zutrauen zu sich selbst zu gewinnen. Die Mitspieler im Container machten vor, wie das geht, dass man in der Auseinandersetzung mit den anderen sich selbst besser kennen lernt, dass es vor allem darauf ankommt, zu sich selbst zu stehen, zu dem, was man schließlich als eigene Identität empfindet. Da tauchten Essentials des evangelischen Glaubens an die Rechtfertigung allein aus Gnade auf.

Die Stories, die das Fernsehen erzählt, dann auch populäre Literatur geben ebenfalls Anleitung, wie die Frage nach einem sinnbewussten Lebenskonzept zu beantworten ist, welche Macht dabei gerade auch die Einbildungskraft hat, der Aufbau fiktionaler Welten, die Phantasie. Literatur und Film, Philosophie, die populäre Psychologie, die Wissenschaft und Pseudowissenschaft, geben heute ebenso lehrmäßige wie emotional eingängige Antworten auf die Frage nach dem Jenseits, Leben und Tod, dem Umgang mit Schuld und Versagen, mit Krankheit und Sterben. Um das Geheimnis der Welt sorgen sich esoterische Zirkel und ein im Okkulten geschäftiger Buchmarkt. Der Aufbau und die Erhaltung der symbolischen Codierungen von Lebenssinn sind Bestandteil allgemeiner gesellschaftlicher Kommunikation. Sie wird wesentlich von den Massenmedien bestritten, von Büchern, Zeitungen, vom Fernsehen, neuerdings vom Internet. Dieses unterlegt den Alltag auf ganz neue Weise mit einer Instanz, der Allzuständigkeit zugemessen wird. Wenn einer nicht mehr weiter weiß, ist der erste Gedanke inzwischen der ans Internet: "Da muß ich mal schnell ins Netz geh'n".

Wir müssen von einer gesellschaftlich, medial vermittelten Pluralität, besser Gemengelage von symbolischen Lebensdeutungsmustern sprechen, von einer sehr diffusen Medienreligion, von einer vieldeutigen Religion der Individuen. Wir haben jedenfalls Veranlassung genug, uns selbst wie die Zeitgenossen als Subjekte vorzustellen, die vor allem durch den Einfluss der Medien, durch das Fernsehen, das Kino, Zeitschriften und Bücher, das Internet, ihr Leben immer schon in Deutungszusammenhänge hineingestellt finden. Wir haben - nicht zuletzt aufgrund unserer Mediensozialisation durchaus so etwas wie eine Vorstellung vom Leben und unsere Einstellung zu ihm.

In der urbanen Welt der Medien ist man auch der Kirche gegenüber nicht einfach gleichgültig. Man weiß vielmehr deren Kraft gerade zur sinnbewussten Bedeutungssteigerung des eigenen Lebens bei Gelegenheit zu schätzen. Religion verschafft Lebensgewinn, im Grundvertrauen stabilisierte Lebensgewissheit, durch rituell wirksame Überhöhung nüchterner Alltagsverhältnisse. Und die Kirche hat mit ihren Räumen, ihren Symbolen und Riten immer noch ein großes Potential, diese Religion zu inszenieren. Der junge Trendliterat Florian Illies, Chefredakteur der Berliner Seiten der FAZ, hat dieses Verhältnis zur Kirche in der Erlebniskultur treffend beschrieben. Er geht in seinem Buch "Generation Golf. Eine Inspektion" den Werbeslogans für dieses Auto nach. Das erste Kapitel trägt die Überschrift: "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und warum weiß mein Golf die Antwort?" Das letzte Kapitel hat denjenigen Werbespruch zur Überschrift, mit dem für das in den neuen Golf wahlweise eingebaute, satelittengestützte Navigationssystem geworben wurde: "Die Frage nach dem Ziel hat sich erledigt". Darin geht es auch um das Verhältnis der Generation Golf zu Religion und Kirche.

Über Gott - so wird bei Florian Illies deutlich - wird nicht gestritten. Jedenfalls nicht so, wie es die eigenen Väter und Mütter, die Generation der 68-er noch getan haben. Damals meinte man noch religionskritisch sein zu müssen, dann jedenfalls, sofern man Gott für die Legitimation der bestehenden Verhältnisse missbraucht sah. Die Generation Golf hat eingesehen, dass man mit ideologischen Kämpfen, seien sie für oder gegen Gott, die Welt nicht verändert, jedenfalls nicht zum Besseren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind kompliziert. Die großen Systeme, die Politik, die Wirtschaft arbeiten nach ihrer eigenen Logik. Was bei dem allem jedoch außen vor bleibt, ist die individuelle Subjektivität und ihre Sehnsucht nach Sinnerfahrung, dass ich mein Leben lebe und dieses Leben auch in seiner ganzen Intensität spüren möchte, dass ich es bewusst, verantwortlich leben will, dass ich mich bewähren möchte und dabei immer auch unbedingt Angehendem begegne. Genau da hat dann aber auch Gott, richtiger, haben explizit religiöse Rituale und Inszenierungen ihren Ort in der postmodernen Erlebnisgesellschaft. Nicht, dass man sich mit rationalen Argumenten für oder gegen Gott herumschlägt, auch nicht dass man Gott für die Moral braucht. Es ist sehr viel eher das ästhetische Verhältnis zur Kirche, das dann allerdings auch moralische Konsequenzen für die Lebensführung hat. Man findet sich beeindruckt von ihren Ritualen. Man spürt, dass es in der Kirche um Dinge geht, die man nicht machen und nicht kaufen kann, die aber das Leben erst eigentlich wertvoll machen. Der Segen des Papstes "urbi et orbi", das Foto der Mutter, das Stefan Raab immer bei sich trägt, das sind Zeichen der Transzendenz, die zugleich persönlich angehen, die man nicht missen möchte, weil sie bei aller demonstrativen Oberflächlichkeit doch dem Leben zumindest einen Hauch von Tiefe geben. Vielleicht ist es aber doch auch sehr viel ernster gemeint, dass man nach tiefer Verbundenheit sucht, mit dem Absoluten, mit etwas, das Halt und Orientierung gibt, auch wenn sonst Vieles bricht.

Kirche und die Frage nach dem Lebenssinn

Die Sinnfrage bleibt die entscheidende religiöse Frage, die Frage, mir der sich die Kirche zu den Menschen hin öffnen kann und muß. Sinnverluste werden empfunden und erlitten. Man gibt sich mit dem Funktionssinn der gesellschaftlichen Systeme nicht zufrieden. Die Sinnfrage steht dort, wo die Individuen stehen. Aber, wie umgehen mit dieser Sinn-Frage? Da sitzt heute große Unsicherheit. Die kulturelle Pluralisierung und mediale Nivellierung der Sinnmuster, womit wir es zu tun haben, gehört hinein in die Gründe, weshalb wir heute so viel Distanz der expliziten Religionsausübung, den Kirchen gegenüber, beobachten. Die Pluralisierung und mediale Nivellierung der symbolischen Horizonte für die Lebensführung ist der Grund dafür, dass an die Stelle der verlassenen Kirchen aber auch nicht neue Religionsgemeinschaften treten, okkulte und esoterische Zirkel und Bewegungen keine recht erkennbare Anhängerschaft finden. Die "Jugendreligionen" oder das "New Age" sind eher literarische Phänomene geblieben als dass sie zu neuen religiösen Sozialformen geführt hätten. Auch in Ost-Deutschland war bekanntlich nach dem Zusammenbruch der DDR und der in ihr offiziell in Geltung stehenden marxistisch-leninistischen Weltanschauung nicht die Entstehung eines religiösen Sinnvakuums zu konstatieren.

Der Gewinn eines Lebenssinns ist so sehr zu einer Sache der Individuen und ihrer privaten Entscheidungsspielräume geworden. Dann spielen die Massenmedien eine enorme Rolle. Die großen Erzählungen, Sinnbilder und Sinngeschichten, die von den großen religiösen Institutionen, den verfassten Religionen und den Kirchen tradiert und gepflegt werden, haben viel von ihrer Bedeutung und ihrer normativen Prägekraft eingebüßt. Die vorgegebenen Wahrheiten, die mit der Bibel oder dem Dogma der Kirche feststehenden Wahrheiten, von Gottes Schöpfung, des Menschen Sünde und seiner Erlösung durch Jesus Christus, sind nicht mehr bekannt und was von ihnen bekannt ist, ist in seinem Sinnorientierungsgehalt nicht mehr einsichtig. Deshalb lassen die Individuen die religiöse Frage auf sich beruhen. Oder sie verfahren nach der durch die Medien wiederum wirksam vermittelten Devise: "Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm selber einen gibt."

Individuell kann es trotzdem sein, dass die Sinnfrage umtreibt. Es kann aber genauso auch nicht sein. Jedenfalls scheint Niklas Luhmann zu Recht die These aufgestellt zu haben, dass es unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft für die Individuen keineswegs mehr notwendig sei, explizit religiös zu sein und sich mit der Sinnfrage abzugeben.[1] Es bleibt für die Gesellschaft notwendig, dass es das Religionssystem in ihr gibt. Die Individuen müssen an der religiösen Kommunikation aber nicht teilnehmen. Hauptsache der Gottesdienst findet statt. Hingehen muß ich nicht. Die Kirchen haben, wie Arnold Gehlen in seiner Institutionentheorie ausgeführt hat, eine religiöse Hintergrundserfüllung.

Aber wenn man hingeht, wird man dann eine nachvollziehbare Antwort auf die existentiellen Sinnfragen finden? Da steigert sich die Unsicherheit heute noch einmal. Sie steigert sich, wenn auch die Kirche als religiös oberflächlich oder gar religionsunfähig erfahren wird, wenn sie sich auf Sozialarbeit beschränkt oder aber die Glaubensbotschaft in einer Weise ausrichtet, die nicht erkennbar macht, auf welche existentiellen und zeitbezogenen Fragen da eine Antwort gegeben sein wollte. Man trifft schließlich auf Antworten, die sich auf supranaturale Heilstatsachen und göttliche Offenbarungen berufen. Auf göttliche Offenbarungen und Hl. Bücher berufen sich aber auch andere Religionen. Und immer wieder kommen neue, oder teilweise neue, hinzu. Es werden viele Heilsgeschichten erzählt, phantastische Mythologien entworfen. Die Fragen der Lebensführung wiederum, Sinnfragen, Fragen der Wertorientierung sind allgemeine Bestandteile gesellschaftlicher Kommunikation geworden, werden insbesondere durch die Medienkultur eindrücklich vermittelt.

Diese Pluralismus- und Synkretismuserfahrungen im Bereich der Religion tragen erheblich zum Plausibilitätsverlust der kirchlichen Theologie und Verkündigung bei, wenn sie nicht aufgenommen und konstruktiv mit dem christlichen Selbstverständnis vermittelt werden. Sie müssen sich, wenn sie in der Öffentlichkeit bleiben wollen, konstruktiv auf die neue, multikulturelle und multireligiöse Situation, somit immer auch auf den Verlust der kulturhegemonialen Stellung des Christentums und seiner Kirchen, einzustellen versuchen. D.h. sie müssen ernst nehmen, dass das Religiöse überwiegend zu einer Privatangelegenheit der Individuen und ihrer Suche nach Sinn geworden ist. Sie müssen versuchen, die christliche Botschaft den Sinninteressen der Individuen zur Verfügung zu stellen, die christliche Botschaft in ihren sinnproduktiven, lebensführungspraktischen Implikationen und Konsequenzen zu vermitteln.

Kirche und urbanes Christentum

Zuletzt die Frage nach dem Beitrag der Kirche in der Gestaltung eines urbanen Christentums. Die Situation der Kirche in der urbanen Welt der Moderne, so haben wir gesehen, ist dadurch gekennzeichnet, dass ihr keine kulturhegemoniale Stellung und Prägekraft mehr zukommt. Das Religiöse ist damit aus dieser Gesellschaft aber nicht geschwunden. Es hat die Form flottierender Energien angenommen, die alles und jedes mit willkürlicher Wucht und mächtigen Bindungskräften besetzen können. Das Religiöse hat die institutionelle Verankerung, die ihm in traditionellen Gesellschaften zukam, weitgehend eingebüßt. Was Religion ist und wie sie gelebt wird, ist zu einer Privatangelegenheit der Individuen und ihrer Suche nach Lebenssinn geworden.

Das ist die Situation, in der die Kirche sich mit ihrer Verkündigung befindet. Sie hat in dieser Situation am ehesten eine Chance, gehört zu werden, Resonanz zu finden, wenn sie sich der Sinnsuche und den lebenspraktischen Orientierungsbedürftigkeiten der Individuen, den moralischen Orientierungskrisen auch, die in der öffentlichen Diskussion sind, widmet - nicht indem sie bevormundet, sondern indem sie sich den Individuen als kompetente Begleiterin, als Moderatorin, als Forum, als Ort der Einkehr und der eigenen, individuellen Arbeit an der Sinnvergewisserung anbietet.

In einer funktional differenzierten Gesellschaft stellt sich den Individuen gesteigert die Frage nach persönlicher Identität und sinnbewusster Lebensorientierung. Sie suchen nach einer einheitlichen, zielgewissen Stellungnahme zur Welt, suchen nach einer Hierarchie der Werte und nach dem guten Leben. D.h. sie suchen - zumindest bei Gelegenheit, in den Umbrüchen und Abbrüchen der eigenen Lebensgeschichte - nach Erzählungen, die zustimmungsfähig machen dazu, dass das eigenen Leben so verlaufen und geworden ist, wie es ist, obwohl eine unüberschaubare Vielzahl anderer Möglichkeiten offen gestanden hätte und immer noch offen steht. Sie suchen nach Perspektiven auch, die zukünftige Lebensentwürfe orientieren können. Insbesondere an den Grenzen ethischer Sicherheit treten Anforderungen zur Klärung letzter Fragen auch in die Systeme von Wissenschaft und Technik ein, wie wir zur Zeit bei den Debatten um die Gentechnologie sehen.

Diese Suche ist die nach einer Orientierungsgewissheit ermöglichenden religiösen Sinnwelt, manchmal auch nach gedanklicher Klarheit in der Abwägung von Gütern, wie jetzt in Fragen der Bioethik und Biopolitik. Das Verlagen ist da nach großen und kleinen, sinnstiftenden Heilsgeschichten. Und jeder, der sich heute auf solcher Suche befindet, merkt, dass er dabei nicht gänzlich allein ist. Man trifft auf andere, die mitsuchen, auch wenn Verständigung schwer fällt. Dies vor allem deshalb, weil den Suchenden klar ist, dass sie keine objektiven, gar rational wissenschaftlichen Geltungsgründe für ihren jeweiligen Glauben, ihre letzten Überzeugungen anführen können. In der modernen, entzauberten Welt, so der Sozialphilosoph M. Weber schon am Anfang des 20. Jahrhunderts, liegt die "Geltung" von Sinnsystemen und Wertsetzungen jenseits der Grenzen der Wissenschaft. Die letztinstanzlichen Fragen nach dem Sinn des eigenen Daseins, nach tragfähiger Lebensorientierung sind, so M. Weber, zu einer "Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin" geworden[2]. Sache des subjektiven Glaubens, persönlicher Überzeugung und Gewissheit, sind die Antworten auf die Fragen nach letztem Sinn und höchstem Wert geworden. Sache eines Glaubens, der nirgendwo anders stattfindet als am Ort der Individuen. Das Selber-Glauben, einen eigenen Glauben zu haben, wollen sie sich im Grunde nicht mehr abgenommen wissen, selbst wenn sie in kritischen Situationen immer noch die Neigung zeigen, das Glauben an die religiösen Institutionen, an die Kirche, die Theologie, den nationalen Ethikrat oder eben an die schönen Erzählungen des großen Gefühlskinos abzugeben. Das moderne Rationalitätskonzept hat alles, was erfahrungswissenschaftlich nicht begründbar ist, ins Reich des subjektiven Meinens verwiesen. Schließlich ist auch die Glaubenslehre von Theologie und Kirche in eine Vielzahl von Bekenntnissen, Privatdogmatiken und subjektiv-individuellen Glaubensäußerungen zerfallen. Der Bekenner eines religiösen Glaubens hat es jedenfalls nicht nur mit säkularen, sondern auch mit einer Vielzahl anderer religiösen Sinnwelten, hoch- und tiefreligiösen, zu tun.

Damit ist jedoch das Glauben nicht überflüssig geworden. Es hat sich nur immer stärker in die individuelle Subjektivität verlagert. Es ist vor allem für das Religionssystem, für Theologie, Kirche und Christentum immer schwerer geworden, sich mit ihren Glaubenslehren Anerkennung zu verschaffen. Das religiöse Glauben wird nun eben angesehen als die - wie M. Weber sagt - individuell zu lösende "Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin". Religiös Glauben, das ist nun etwas, das aus spekulativen Betrachtungen, aus der Deutungsarbeit von Individuen immer erst entspringt. Bei dieser Deutungsarbeit greift man dann wieder auf die großen Erzählungen, auf mythische Bilder der biblischen Heilsgeschichte, auf Symbolwelten anderer großer Religionen zurück. Sie werden zum sinnstiftenden Material ethisch-religiöser Deutungsprozesse und Stellungnahmen.

Genau hier liegt nun aber auch die Chance einer offenen und öffentlichen Kirche in der Stadt. Sie gibt die Wahrheit nicht vor. Sie operiert nicht mit fertigen Antworten. Sie stellt vielmehr den Reichtum, ihrer Traditionen, stellt ihre wunderbaren Sinnbilder und Sinngeschichten dem Sinndeutungsinteresse der Individuen zur Verfügung stellen. Der Reichtum der Symbolwelt des christlichen Glaubens liegt in den alten Erzählungen von Schöpfung und Sünde, Rechtfertigung und Erlösung. Die kirchliche Verkündigung muß diese Vorstellungen heute aber anders auslegen als die Alten es taten. Die kirchliche Verkündigung findet in ihnen ihr symbolisches Material, die Deutungsmuster für die Interpretation von Lebenserfahrungen. Sie fragt - im Unterschied dann auch zur bloß ästhetischen Einstellung, wenn auch von dieser durchprägt - danach, ob die Bilder, Metaphern, Erzählungen, die das göttliche Heilshandeln vorstellig machen, eine Sinn- und Beziehungswahrheit eröffnen, eine solche, welche die Existenz und Lebensgeschichte des einzelnen in ihren Kontingenzen, Brüchen und Umbrüchen, in ihrer Endlichkeit, in ihrer Individualität als sinnhafte erschließt und eine sinnbewusste Orientierung im Leben ermöglicht, eine ethische Lebensform.

Die Aufgabe der kirchlichen Verkündigung heute ist eine solche moderne Umformung des Christentums, der es gelingt, die existentielle Sinn-Wahrheit der grundlegenden Symbole des christlichen Glaubens neu aufzuschließen. Ihre Aufgabe ist die sinnkonstruktive Auslegung der großen Erzählungen von Schöpfung und Sünde, Rechtfertigung und Gnade, ohne sie dogmatisch zu zeitlosen Wahrheiten zu überhöhen, oder ihre Anerkennung mit moralischen Druck einzufordern. Theologie und Kirche müssen sich um einen ansprechenden Gebrauch der biblischen Metaphern mühen, um eine subjektiv einleuchtende Umsetzung der alten, mythologischen Erzählungen - im Vertrauen darauf, dass Evidenzerfahrungen sich einstellen, eine Lebensdeutung erkennbar wird, die zwanglos zur subjektiv eigenen werden kann.

Die Botschaft von Gott, die Symbolsprache des christlichen Glaubens überhaupt, die Rede von der Schöpfung, von Kreuz und Auferstehung, von Sünde, Gesetz und Gnade, muß auf die Lebensdeutung hin aufgeschlossen werden, die in diesen Chiffren beschlossen liegt - und dies möglichst so, dass sich dabei etwas von der Gestimmtheit des Herzens vermittelt, mit welcher die religiöse Lebensdeutung sich innen verortet. Es braucht die sprachliche Verflüssigung der überkommenen Chiffren. Es kommt vor allem darauf an, dass sie anschlussfähig werden und sich einspielen lassen in diejenigen religiös sensiblen Selbstdeutungen, welche die Zeitgenossen so oder so angefertigt haben und die sie sich aus dem reichen Angebot von Ritualen und Symbolen, welches die Medien- und Erlebnisgesellschaft bietet, zuspielen lassen.

Die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die im Zentrum christlich-protestantischer Glaubenslehre steht, formuliert die ethisch-religiöse Lebensposition des Christentums besonders trefflich. Und die Geschichten von und über Jesus zeigen, wie von ihr auf gewinnende Weise erzählt werden kann. Jesus hat vorgemacht, durch sein Auftreten, mit seinen Gleichnisgeschichten, wie eine sinngewisse Lebensansicht und Weltanschauung gewonnen werden kann. Er hat gezeigt, dass die Würde eines Menschen, der Grund dafür, dass er Anerkennung, Wertschätzung und Liebe verdient, nicht in dem besteht, was er hat und was er kann, und wie er aussieht, sondern darin, dass er als Gottes Geschöpf und sein Ebenbild da ist. Vom Haben führt die christliche Lebenseinstellung zum Sein, vom Sinn, den einer sich selbst verschafft, zu dem, in dem er sich im Licht göttlicher Anerkennung vorfindet. Du darfst sein, der du bist. Mehr braucht es nicht. Dass der Mensch allein aus Glauben und nicht aufgrund seiner verdienstvollen Werke gerechtfertigt ist, meint - in der sinnreflexiven Umformung gesagt - diesen Blickwechsel. Ich schaue nicht darauf, was ich alles geleistet und in Szene gesetzt habe, bzw. noch tun und in Szene setzen muß, um das Gefühl zu haben, mein Leben lohne sich, habe Sinn, sei ein erfülltes, gelingendes Leben. Ich schaue mich selbst so nicht mehr an und nicht die andern. Der Glaube, der rechtfertigt, ist der Glaube an den Gott im Menschen, in Jesus, in jedem Menschen. Es ist der Glaube an den unendlichen Wert jedes einzelnen, seine unverletzliche Würde. Dieser religiöse Glaube, der zugleich eine ethische Lebensform ist, führt dazu, dass ich mich selbst anerkannt wissen kann und andre anerkenne, unabhängig von meinem Vermögen und meinen Leistungen, der Hautfarbe, des Geschlechts, der nationalen und auch religiösen Zugehörigkeiten.

Der christliche Glaube ist diese bestimmte Lebensdeutung. Als solche ermöglicht er die Deutung eigener lebensgeschichtlicher Erfahrungen und Erwartungen. Er orientiert über die Werte, die im Zusammenleben unbedingte Geltung beanspruchen können. Das bleibt deshalb auch eine der wichtigsten Aufgaben kirchlicher Predigt und kirchlichen Unterrichts, des Religionsunterrichts in den Schulen, die Sinnangebote, die Lebensbilder, die anschaulichen Gestaltungen gelungenen Lebens weiterzutragen, die in den biblischen Überlieferungen enthalten sind. Und das gelingt am ehesten, wenn zugleich verfolgt wird, wie entsprechende Sinnangebote oder auch abweichende und umgeformte in der säkularen Gegenwartskultur, in der bildenden Kunst, in den Unterhaltungsmedien und in der Werbung, in den populären Filmen und Comic-Serien aufgebaut und transportiert werden.

Die Bibel kann in solchen Vergleichen mit den medialen Sinnkonstrukten als ein gutes Stück Unterhaltungsliteratur neu entdeckt werden. Ihre Erzählungen können neu aufgeführt werden - auch in literarisch oder filmisch verfremdeter Gestalt. Dann kommt mit der Inszenierung des Auftretens Jesu, dem Nachbilden und Nacherzählen seiner Symbolgeschichten heraus, dass es sich um Sinn stiftende, lebensdienliche Angebote zur Lebensdeutung handelt und nicht um supranaturale, vernunftwidrige Glaubenstatsachen und -gegenstände. Es teilt sich den Zeitgenossen mit, dass es mit dem christlichen Glauben zuerst und dann noch einmal um eine dem Humanum verpflichtete ethisch-religiöse Lebensposition geht. Der Glaube deutet das Leben als unverdientes Geschenk. Wer zu dieser Lebensdeutung findet, der kann unverkrampft zu sich selber stehen und offen auf andere zugehen. Ich denke, das lässt sich auch vermitteln. Der beste Beleg dafür ist der Titelsong von Big Brother: "Zeig mit dein Gesicht. Zeig mir wer du wirklich bist..." Er formuliert die existentielle Wahrheit des Glaubens an die Rechtfertigung allein aus Gnade, des Glaubens also an vorbehaltlose Anerkennung - im säkularen Gewand, ohne die biblische Vorgabe. Dann höre ich: Sei der du bist. Der Christ kann die biblische Vorgabe hinzufügen und damit Auskunft geben über den transzendenten Grund der Selbstgewissheit, die in ihm ist. Du bist unbedingt wichtig. Du bist von Grund auf frei. Tue, wozu du jetzt gebraucht wirst.

Anmerkungen
  1. Vgl. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, 1989: "Die Möglichkeit religionsfreier Lebensführung ist als empirisches Faktum nicht zu bestreiten, und das Religionssystem findet sich mit dieser Tatsache konfrontiert. Alle anthropologischen Begründungen der Funktion der Religion brechen an diesem Tatbestand zusammen; weder Sinnbedürfnisse noch Trostbedürfnisse halten die Religion am Leben. Man kann höchstens sagen, dass sie sich bereithalten sollte, für den Fall, dass jemand solche Bedürfnisse kommuniziert. Die Notwendigkeit von Religion kann mithin nicht auf anthropologischer, sondern nur auf soziologischer Grundlage nachgewiesen werden. Religion löst nicht spezifische Probleme des Individuums, sondern erfüllt eine gesellschaftliche Funktion." (349)
  2. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann), Tübingen, 1985, 152

© Wilhelm Gräb 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/wg1.htm

 
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Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religionen, Gütersloh 1998
Wilhelm Gräb, Religion als Thema der Theologie, Gütersloh 1999