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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips VIII

Im Angesicht der Verzweiflung

Andreas Mertin

Horrorvisionen

Die arte-Serie, die sich Anfang des Jahres unter dem Titel "Fantastic Voyages" der Kosmologie des Musikvideos widmete, hat unter dem Begriff "Horror" einige Stücke verortet, die es lohnen, unter dem Aspekt des Menschenbildes betrachtet zu werden. Sie knüpfen in ihrer Perspektive und Fragestellung weniger an den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an, als vielmehr an den In-Frage-Stellungen und Befragungen des Menschen in der französischen existenzialistischen Nachkriegs-Literatur und -Philosophie.

Leftfield: Africa Shox

Der Videoclip zu "Africa Shox" aus Leftfields "Rhythm and stealth" könnte fast in die Rubrik der religionspädagogischen Kurzfilme eingeordnet werden. Er ist ein anspielungsreiches, schockierendes und interessantes Miniaturstück über den Menschen in den Städten, über die Brüchigkeit von Lebensverhältnissen, über Orientierung und Sinn. Gedreht wurde der Clip unter der Regie von Cris Cunningham, der für die Spezialeffekte in Alien 3 und 4 verantwortlich war und auch die Clips "Come to Daddy" und "Windowlicker" von Aphex Twin sowie Björks "All is full of love" realisiert hat und der gerade die Verfilmung von William Gibbsons "Neuromancer" vorbereitet.

Zu sehen ist im Clip ein Schwarzer, der aus den Hinterhöfen kommend orientierungslos durch das Bankenviertel von New York wankt.

Anfangs hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Buster Keaton, von dem Siegfried Kracauer schreibt: Er ist ein Gestoßener. Die vielen Gegenstände: Apparate, Baumstämme, Trambahnwände und Menschenkörper veranstalten ein Kesseltreiben gegen ihn, er kennt sich nicht mehr aus, er ist unter dem sinnlosen Druck der zufälligen Dinge apathisch geworden. Im Clip aber verschärft sich die Szenerie: Im Kontrast von gesellschaftlichem Umfeld und individueller Existenz kommt es zu einer Reihe von "Unfällen", an deren Ende vom Schwarzen nicht einmal mehr ein Torso übrig bleibt. Als er seinen Arm hilfesuchend nach einem zeitungslesenden Mitbürger ausstreckt, rennt ein weißer Geschäftsmann dagegen und wie bei einer Schaufensterpuppe bricht der Arm des Schwarzen ab.

Als er sich einen Zaun entlang hangelt, passiert das Gleiche mit einem Fuß, er zersplittert in tausend Einzelteile. So behindert trifft er in einem Parkhaus auf Breakdancer, die den Betrachtern den Kontrast von Beweglichkeit und beschränkter Bewegungsfähigkeit drastisch vor Augen führen. Schließlich stürzt der Schwarze ein weiteres Mal und verliert auch noch den anderen Arm. Ein Vorbeikommender betrachtet den am Boden Liegenden und fragt doppeldeutig: "Do you need a hand?"

Der Clip endet mit der vollständigen Zersplitterung des Schwarzen durch einen Verkehrsunfall in der Hektik des Berufsverkehrs von Manhattan.

Man kann den Clip als bitter-ironisch-kritische Metapher auf die so genannte "Soziale Mobilität" verstehen, im doppelten Sinne von horizontaler Mobilität (regionale Veränderungen wie Ortswechsel oder Wanderungsbewegungen) und vertikaler Mobilität (Veränderung des sozialen Status, das heißt Auf- und Abstieg sozialer Schichten). Africa Shox endet in der Katastrophe, der kommunikativen Leere und der Atomisierung des Menschen.


U.N.K.L.E.: Rabbit in your Headlights

Unter der Regie von Jonathan Glazer wurde 1999 UNKLEs ebenso rabenschwarzer wie geheimnisvoller Videoclip "Rabbit in your Headlights" inszeniert. Der Clip ist vielfältig lesbar, er kann ebenso als alptraumartige Erfahrung des "Nicht-Wahrgenommen-Werdens", wie auch als konfrontative Auseinandersetzung von Mensch und Technik, und als Paradigma atomisierter menschlicher Existenz in einer automatisierten Umwelt gedeutet werden.

Der Betrachter sieht zunächst einen Mann in einem Autobahntunnel mitten über die Fahrbahn laufen, während die heranbrausenden PKWs nur mit äußerster Mühe dem beweglichen Hindernis ausweichen können.

Der Mann redet pausenlos in einem kaum verstehbaren Kauderwelsch vor sich hin, beachtet die Umwelt in keiner Weise, sondern geht stetig seinen Weg, der ihn unausweichlich in Kollision mit seiner Umgebung führt.

Bleibt er zunächst wie tot auf der Fahrbahn liegen, so rappelt er sich kurz darauf wieder auf und setzt seinen Weg unverdrossen fort. Er lässt sich auch nicht beirren als ein Auto neben ihm herfährt und die Insassen auf ihn einreden. Immer wieder kollidiert er mit Auto-Mobilen und immer wieder steht er - der Erfahrungswelt von Zeichentrickserien wie Tom und Jerry entsprechend - aus den letalsten Situationen wieder auf.

Immer zorniger in seiner Artikulation, immer heftiger in seinen Bewegungen und immer unverdrossener in der beharrlichen Verfolgung seines Weges reißt er sich schließlich die Kleidung vom Oberkörper und bleibt - wie als ob ihn eine plötzliche Erkenntnis getroffen hätte - stehen. Er breitet die Arme aus und wartet auf die finale Kollision mit einem heranbrausenden Auto.

Aber entgegen der Erwartung des Betrachters wird er nicht getötet, vielmehr zerbricht paradoxerweise der Stahl des PKWs am Körper des Tunnelläufers, welcher nach und nach in einer verklärenden Staubwolke verschwindet. Es ist schon eine Art Hollywood-Showdown, der aber die Radikalität des zuvor Gesehenen nicht beeinträchtigt.

Der Mensch als Gestoßener

Beide Clips handeln von Unfällen, von bedrohlichen bis tödlichen Konflikten des Einzelnen mit seiner Umwelt. Sie sind weniger Horror-Videos im sensualistischen Sinn, als vielmehr allegorische Videos über den Schrecken mancher menschlichen Existenz. Ob in Africa Shox die Diskrepanz zwischen individueller Lebenswelt und dem kulturellen System so groß wird, dass sie sich tödlich aneinander reiben, oder ob in Rabbit in your Headlights der Weg des Menschen von Kollisionen nur so gepflastert ist, jedes Mal wird menschliches Leben im Angesicht der Verzweiflung dargestellt, jedes Mal ist der Mensch ein Gestoßener.

Different sind die beiden Clips - zumindest auf den ersten Blick - in ihrer Perspektive. Während das Opfer Mensch in Africa Shox von der kalt-technoiden Umwelt wortwörtlich atomisiert wird, wird sein Körper in Rabbit in your Headlights auf paradoxe Weise zum Widerlager, wird er vom Gestoßenen zum Anstößigen, weil er die verzweifelte Perspektive des Getriebenen zugunsten des Widerstands durchbricht.


© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/am37.htm

 
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Leftfield, Rythm And Stealth

UNKLE, Psyence Fiction