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Magazin für Theologie und Ästhetik


"Everybody is surfing"

Gleiten als Lebensbewegung

Marcus A. Friedrich

"Völlig losgelöst ins Jahr 2001 gleiten!" motiviert das Hamburger Abendblatt in der Wochenbeilage "Live" seine Leser und Leserinnen zum Jahreswechsel und trifft mit diesem Imperativ einen Gesellschafts-Nerv, denn "Everybody is surfing." Gleiten ist Lebensbewegung, eine gegenwärtig hochbeliebte, ästhetisch reizvolle Bewegungskunst: Eben noch mit dem Kickboard, den Rollerskates oder dem Cityscooter über Beton und Asphalt gesurft, nun schon im dahingleitenden ICE auf die Zugspitze zum Snowboard-Fahren oder mit dem Straßen-,Schlitten' an die Küste zum Windsurfen.

Der Gleitschirm - englisch und neudeutsch Kite - ist in beiden Fällen mit an Bord: als Zugschirm zum Kite-Surfen auf dem Wasser zum Beispiel, einer Sportart, die erst seit zwei Jahren in Deutschland populär zu werden beginnt. Oder eben zum Gleitschirmfliegen im Aufwind der Berge.

Gleiten als Bewegung hat heute einen herausragenden Stellenwert. Gleiten ist womöglich sogar das Bewegungsideal unser Fortbewegungskultur. Und Gleiten wird dabei auch gepflegt als eine Bewegung zum allumfassenden Leben, als Weg zu Transzendenzerfahrungen. Die Kunst des Gleitens ist ein Mysterienweg und impliziert Religion.

Der Auslöser

Skiurlaub 1999 in den Französischen Alpen. Nach Jahren der Abstinenz setzt sich die Lust am Pistengleiten beim Autor wieder durch, er genießt den Gleitrausch. Frankreich weiß seine Ski-Industrie zu vermarkten und hat für den Winter 1999 "LA NOUVELLE GLISSE", das neue Gleiten, ausgerufen. An allen Skistationen wird unter diesem Slogan die ganze Palette verschiedener Gleitstile vermarktet: Telemark, Kurz-Ski, Kaver-Ski und natürlich auch das Snowboard. Die Bewegungsverwandtschaften von Snowboardfahren zu Windsurfen und Wellenreiten, und zum Skateboardfahren werden nicht nur unter den Füßen spürbar: In den Warteräumen der Gondelstationen rieseln vom Bildschirm Gleitszenen auf Wasser und Schnee: Bilder von Wellenreitern, Windsurfern, Skateboardern und Snowboardern gehen gleitend ineinander über. "La nouvelle glisse - das neue Gleiten": Es ergibt sich die Frage, wie und warum die Bewegungsästhetik des Gleitens offensichtlich eine solch breite Faszination auslöst.

Zum Theorieansatz

Einige Anmerkungen zum Ansatz dieses Artikels: Seitdem ich mich dem Phänomen des "Gleitens" in praktisch theologischem Interesse zugewandt habe - für diesen Artikel also etwa seit dem Herbst 2000 - hat mir der Zufall bei meiner Expedition Glisse gute Dienste geleistet: Mit der Frage nach der Lebensbewegung des Gleitens in Kopf und Gliedern entdeckte ich in unerwarteten Momenten einige bedeutungsreiche Spuren und Funde zum Thema, die ich auf den folgenden Seiten präsentieren möchte. Es ist mir ein Anliegen, dass meine Schreibe vom überraschenden Zufall jetzt nicht esoterisch klingt. Da tauchen Spuren und Dokumente nicht plötzlich und wundersam auf und verlangen uns eine Logik der Affirmation, ein "Ah" und "Oh" ab. Die Dinge, die Phänomene sind schon da, sie umgeben uns. Die Kunst besteht nur darin, sie zu entdecken und deuten.

Theologische Praxis, praktische Theologie ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als Kunst der Wahrnehmung: Perspektiven, Durchblicke, die sich anbieten, aufzunehmen und zu interpretieren.

Aber was unterscheidet diesen heuristischen Ansatz dann von den Kulturwissenschaften oder einer teilnehmenden Beobachtung der Ethnologie? Nicht vieles, aber Entscheidendes: Die Praktische Theologie besitzt die Frechheit, das wörtlich All-Mächtige, den oder die Allmächtige, die freilich auch ohne Macht und Wirksamkeit sein kann, in allen Phänomenen in Betracht zu ziehen und ins Spiel zu bringen. Wenn Gott die Erfahrung mit aller Erfahrung ist, dann sollte es sich lohnen, ihn auch in den Erfahrungen zu suchen, die mit der Bewegung des Gleitens einher gehen.

Gleiten als spirituelle Praxis

Auf den folgenden Seiten beschreite ich die Spur zurück und betrachte Fundstück für Fundstück. Es ist erstaunlich, wie viel Religion die Apostel des Gleitens aus der Wellenreiter-, Kitesurfer- und Skaterszene aufgrund ihrer Gleitbewegungen hervorbringen. Die Darlegung der Beobachtungen endet schließlich bei der These, die sich mir am Anfang meiner Spurensuche als Hypothese in Form einer Werbungsannonce anbot. Die These besagt: Gleiten als Lebensbewegung ist eine spirituelle Praxis der Himmelfahrt.

Der erste Fund ist bereits oben abgebildet. In der Beilage des Hamburger Abendblatts vom 29.12.2000, die ausgerechnet den Titel "Live", Leben, trägt, wird eingeladen zum völlig losgelösten Gleiten ins Jahr 2001. Die Anzeige macht deutlich, wie hoch das Gleiten als Fort-Bewegungskunst im Kurs ist. Selbst ohne Gleitmittel, Gefährt, Board oder Schirm: Junge Menschen bewegen sich, wie man auf dem Bild sehen kann, im besten Falle völlig losgelöst gleitend von Event zu Event.

Es sind aber auch Signale wahrzunehmen, die Zweifel an der anhaltenden Kraft des Gleittrends aufkommen lassen:

Erstens eine Makroperspektive: Die Republik erlebt in diesen Wochen den Abgesang der Kickboards und der Cityscooter. Von 500 sind die Preise auf 80 DM gefallen. Diese Dinger waren zweifelsohne der Gleittrend der Massen des Jahres 2000, und zu so einem Trend gehört auch ein entschiedener Ausverkauf.

Zweitens eine Mikroperspektive: Auf der Weihnachtsfeier der Mitarbeiter in der Kirchengemeinde Kappeln, in der ich zur Zeit arbeite, erwürfelte ich bei einem Juleclub mit Gruselgegenständen zwei weder nützliche noch ästhetische ansprechende Gleitspielzeuge, aber es waren eben Gleitspielzeuge.

Zum einen ein Windsurferpaar in Öl.
Und zum anderen dieser Wellenreiter.

Als ich dies Drahtgerät durchschnittlicher Popästhetik sah, fühlte mich jedenfalls zwangsläufig auf meinen achtzehnten Geburtstag 1986 zurückversetzt, an dem ich etwa ein halbes Dutzend solcher Blechsurfer geschenkt bekam. Sie waren bis zu jenem Abend im Dezember 2000 aus meinem Gedächtnis verschollen. Nun aber, auf der Suche nach dem Gleiten als Lebensbewegung tauchten diese Objekte wieder auf. Sollte sich möglicherweise eine tiefere Bedeutung dahinter verbergen, dass ausgerechnet im geerdeten protestantischen Kirchenmilieu, im Advent, also eben der Zeit der Niederkunft, der Verwurzelung Gottes unter uns Menschen, sich gleich zwei Mitarbeiter von Gleitspielzeug trennen, einem Spielzeug, das eben die potentielle Himmelfahrt, die Gegenbewegung, die Apotheose im Kleinen inszeniert? Ich möchte diese Fragestellung an dieser Stelle nicht weiter vertiefen.

Makro und Mikroindizien für eine Krise der Gleitens scheinen nicht ausreichend stark. Im Gegenteil: "Everybody is surfin`" - Die Parole, die die Beach Boys bereits 1963 ausgegeben haben, greift gegenwärtig erst richtig. Nie war die Lust an der gleitenden Bewegung so groß wie heute. Selbst die Schulen haben die Bedeutung des Gleitens für die Bewegungsentwicklung der Kinder entdeckt und jagen sie auf Rollbrettern durch die Turnhallen. Auch dies ist als Breitenphänomen ein Novum der letzten zehn Jahre.

Die Gleit-Manie treibt Blüten: In Schleswig-Holstein wurde eine Sportart namens "Ackergliding" zum Patent angemeldet. Gleitbesessene lassen sich von einem Geländewagen auf einem alten Perserteppich surfend über das frisch gemähte Kornfeld ziehen.

Die Liste der Gleitbewegungsarten, ließe sich noch fortsetzen. Schlittschuhlaufen und Schlittenfahren sind für die meisten naheliegender als Kitesurfen, einmal abgesehen von den erotischen Konnotationen, die Gleiten als Bewegung auch hat. Ich beziehe mich im Folgenden einmal bewusst auf die sogenannten Trendsportarten.

Die Lust am Gleiten

Was macht sie aus - die Lust am Gleiten? Sicher ist es das Erlebnis von Geschwindigkeit, eine beflügelte Fortbewegung durch rhythmischen Körpereinsatz, Rollertreten oder Schlittschuhschritt beispielsweise. Mit wenig technischer Hilfe wird man/frau leicht und schnell, das Gerät wird den Gleitenden zum Organ am Leibe. Beim Gleiten halten sie ihr dynamisches Gleichgewicht. Sie sind wendig und flexibel. Wenn sie verkrampft wären, würden sie stürzen. Der gleitende Mensch ist also auf eine spezielle Weise auch entspannt.

Wenn dem so ist, scheint beim Gleiten durch die City mit Rollerskates oder Kickboard zur spielerischen Aufführung zu kommen, was gegenwärtig für Karriere und Beruf, ja, für einen erfolgreichen Lebensstil überhaupt höchstes Ideal ist: Schnell muß es gehen mit der Arbeit, dynamisch soll man/frau wirken und zugleich relaxed, wendig und flexibel. Und wer den kleinen Spaßmoment zwischendurch nicht genießen kann bei all der Eile, dem fehlt wohl die Souveränität. - Verbeulte Cityscooter und zerfaltete Anzugträger in den Rinnsteinen der Großstädte zeugen allerdings von der professionellen Selbstüberschätzung eines manchen Juppys als Gleitmeister. Gleiten will eben geübt sein. Und um diese Übung nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in ihrer Tiefendimension zu verstehen, sollen im Folgenden die Apostel der Gleitwelle befragt werden: Ist Gleiten mehr als bloß die spielerische Inszenierung eines zeitgenössischen Arbeits- und Lebensstils? Bei weitem mehr. Und um diesem Mehr auf die Spur zu kommen, zurück zu den Ursprüngen des Gleitrausches: dem Wellenreiten.

Wellenreiten - Ego am Ende

Nächste Station des Suchpfades: In einer Zwangspause auf Reisen - das Gleiten gelingt dem Regionalverkehr der DB nicht so elegant wie dem ICE - entdecke ich an einem provinziellen Zeitungskiosk das bis dato mir unbekannte Skater-Fanzine "lowdown", Zeitschrift für Populärkultur und Bewegungskunst Nr. 23. Es dient unter anderem den weiteren Ausführungen als Grundlage. Auch die Skatboarder beziehen sich in diesem Magazin auf die Wurzeln ihrer Bewegungsart und lassen einen Wellenreiter poetisch zu Wort kommen. Rob Machado, ein Wellenreiter aus San Diego USA schildert sein Selbstverständnis wie folgt:

"A true surfer flows with the rhythms of nature, without asserting his will or self. He shares with others because he knows that true happiness lies in loving kindness, so he gives unconditionally: gives waves, gives up ego, and lives to love the perpetual now."
"Ein wahrer Surfer fließt mit den Rhythmen der Natur, ohne auf seinen Willen oder sein selbst zu bestehen. Er teilt mit anderen, weil er weiß, dass wahres Glück in liebevoller Freundlichkeit liegt. Deswegen gibt er bedingungslos: gibt Wellen, gibt sein Ego auf, und lebt, um das ewige Jetzt zu leben."

Es ist erstaunlich, wie dicht hier die Bewegungskultur des Wellenreitens in einen spirituellen Deutungshorizont eingebettet wird. Das Surf-Verständnis Machados ist mit der oben aufgestellten Hypothese vom dynamischen Lebens- und Arbeitsstil weniger vereinbar. Geht es dem urbanen Rollerfahrer auf der einen Seite darum, die lineare Zeitspanne von Termin A zu Termin B zu verkürzen, ermöglicht das Gleiten im Rhythmus der Wellen offensichtlich die Erfahrung einer "Traumzeit", in der sich ein "ewiges Jetzt" ereignet. Während der ideale Businessmann ganz entschieden auf seinen Willen zur Macht zählt, kann der Surfer zwischen den Wellen des Ozeans sein Ego offensichtlich so aufgeben, dass etwas größeres einziehen kann.

Diese Möglichkeit wird nur verständlich, wenn man genau betrachtet, wie sich Wellenreitende bewegen: Zunächst kämpfen sie sich mit ihrem ganzen Einsatz durch Wellen, die ihnen an Kraft und Höhe haushoch überlegen sind. Sie schwimmen und tauchen bis zum dem Ort, der nur wenige Meter jenseits des Brandungssaumes liegt.

Was dann kommt, ist Warten. Übers Knie kann hier nichts gebrochen werden. Auf Zwang funktioniert gar nichts. Auf dem Brett sitzend dümpeln sie, stets den Blick auf das offene Wasser gerichtet. Sie warten auf die Welle, ihre Welle. Setzt eine Welle unter dem Surfer steil zum Brechen an, kommt der entscheidende Moment, der Kairos, in dem sich zeigt, ob der Ritt zustande kommt oder nicht. Jetzt ist wieder für wenige Sekunden ganzer Krafteinsatz gefragt. Mit Händen und Füßen versucht der Surfer, das Brett zu beschleunigen und so zu neigen, dass es am Wellenhang ins Gleiten kommt. Der Surf, nur wenige Sekunden, aber gedehnte Zeit - beginnt, sobald der Wellenreiter auf dem Brett sein dynamisches Gleichgewicht gefunden hat. Dieser Moment der hochgradigen mentalen und körperlichen Spannung ist im Vergleich zum kraftzehrenden Schwimmen und ruhigen Warten selten. So gesehen ist Wellenreiten also alles andere als effektiv. Aber das Gleiten am Hang der Welle selbst ist offensichtlich eine derart intensive Erfahrung, dass viele Menschen diesen Bewegungsablauf immer aufs Neue und bis zur Erschöpfung wiederholen und üben. Auf der Suche nach dem Kontingenzerlebnis, dem Einklang mit jener rhythmischen Lebenskraft, die größer ist als das Individuum, die es schiebt, die es vorantreibt und im nächsten Moment möglicherweise wieder verschluckt. Der Moment des Gleitens auf dem Ozean scheint Spiritualität zu provozieren, Ehrfurcht vor dem Leben, vor den Gewalten der Schöpfung, die bis zur Aufgabe des Egos reicht.

"I´ve laughed and cried in the sea
I´ve said goodbye to friends in the sea
I´ve watched the sun rise over the sea
I´ve seen the sky cry into the sea
and when my time is through...that´s where i´ll be...
in the sea",

beschreibt Machado sein allumfassendes ozeanisches Gefühl.

Mit der Befragung Machados und der Gleitbewegung beim Wellenreiten berührt die Auslegung eine tiefere Stufe - oder eine höhere, wie man's nimmt! Jedenfalls lässt sich zwischenbilanzieren: Gleiten kann - es muß nicht, aber es kann - echte Lebensbewegung, Bewegung zum Leben, insofern sein, als es - mit der nötigen Disziplin/Nachfolge betrieben - spirituelle Erfahrungen und religiöse Selbstdeutungen eröffnet.

Machado ist eine Ausnahme, ließe sich erwidern. Zufall, dass hier Sinn- und Selbstdeutung im Spiel sind. Kein Zufall! Sucht man weiter, wird man auch andernorts in der Gleitszene von religiöser Sprache überrascht:

Die freie Religion des Gleitens

"Fuck your beemaz and benzes. religions is now free", titelt die oben genannte Skater-Zeitschrift "lowdown". Bildunterschrift unter einem Foto, auf dem ein Skater mit seinem Board über den Kofferraum eines zerknautschten Pkws gleitet. Der Skater überwindet hier real und symbolisch die gegenüber dem Skateboard mechanische und unflexible Fortbewegungsart Autofahren, er macht das Wrack zu seiner Welle und reitet sie ab. Im ersten Gebot des Skatercredos auf dem Titel von "lowdown" verdammen die Autoren Benzees, Mercedes Benz also, und Beemaz, BMW, und rufen die freie Religion des Gleitens aus.

Skatern ist tatsächlich zu verdanken, dass sie in unseren Städten Beton und Asphalt aufweichen und die Grenzen der gängigen Fortbewegungsstile sprengen. Sie brechen Bewegungsmuster und damit Lebensmuster. Selten wird deutlich, wie viel Unterwerfung es bedeutet, wenn der Mensch Wegen und Bewegungsarten des städtischen Raums folgt. Die vielfache Zweckentfremdung des urbanen Mobiliars durch Skater macht diese alltägliche Unterwerfung unserer Bewegungskultur sichtbar.

Skater sind stets auf der Suche nach den Brandung in der Stadt, nach Wellen, die ihren Gleitübungen Rhythmus geben. So ist im Skatermagazin in einem Bericht über Tokio unter anderem das folgende Haus abgebildet.

Bänke, Treppen und Geländer sind die Wellenhänge, die die Stadt für das Skateboard bereitstellt. Wer einmal Skater beobachtet hat, wird ähnliche Bewegungsregeln und -stile wie bei den Wellenreitern entdecken: Hektik und Geschwindigkeitsrausch oder gar die schnelle Überwindung von Distanzen liegen nicht in ihrem Interesse.

Skater feilen mit unglaublicher Ausdauer an der Balance auf verschiedenen steinernen oder stählernen Wellen. Sie versuchen, die Dimensionen, Ecken und Kanten dieser Welle zu erfassen und sich auf ihren Rhythmus einzuschwingen. Und oft entsteht dann Gleichgewicht dort, wo es dem gleitfremden Passanten unglaublich scheint und selbst unmöglich wäre. Das "ewig wiederkehrende Jetzt" des Rob Machado lässt sich auch hier erahnen, wenn man den ausdauernden Übungen der Skater zusieht. Immer und immer wieder wird beispielweise ein bestimmtes Treppengeländer besprungen, der Einsatz des Körpers erfolgt mit Präzision auf den Punkt genau. Und der Skater durchlebt dabei - ganz wie die Wellenreiter - auch viele unspektakuläre Vorbereitungs- und Zwischenzeiten.

Escape the limits

"Escape the city limits". Seit wenigen Jahren haben Skater auf den Skipisten jene offenen Räume für sich gewonnen, die die Stadt nicht bieten kann. Die Bewegungstechnik lässt sich reibungslos auf das Snowboard übertragen. Wer Ski läuft, kann bestätigen, dass das Snowboard ein ganz neues Klientel urbaner Rüpel auf die Pisten gebracht hat. Menschen wie Gogo. Eben stapfte er noch in Berlin City, jetzt befindet er sich schon in Tirol, so die Bildlegende.

Indem wir Gogo nach Tirol folgen, soll eine weitere Bewegungsdimension des Gleitens in den Blick genommen werden. Ein Phasenbild von Gogos Ritt in seinem sogenannten "Backyard run", dem Hintergarten Berlins lenkt den Blick auf das eigentliche Ziel jeder Gleitbewegung auf dem Skateboard, am Kiteschirm oder auf dem Windsurfer: das Fliegen. Es ist auffällig, dass in den einschlägigen Magazinen über Windsurfen, Kitesurfen und Skaten überwiegend atemberaubende Sprünge im Bild festgehalten werden.

Ziel der spirituellen Übungen in der freien Religion des Gleitens ist, so scheint es, nicht nur die Aufgabe des Ego im Rhythmus der sich wiederholenden Bewegung, Ziel ist auch jene Überwindung der Schwerkraft, die Christen mit der Chiffre der Himmelfahrt belegen. Wieder lässt sich der Einwand abwenden, dies sei eine aufgesetzte Interpretation. Das nächsten Fundstück zeigt, dass die Apostel des Gleitens selbst von "Himmelfahrt" reden.

Dem Himmel so nah

In "Kite-Board.de", jenem deutschen Magazins der noch jungen Kitesurfer-Szene, fand ich auf der letzten Seite, sozusagen kurz vor Schluss, am Ende aller Lesezeiten, die Beschreibung eines Himmelfahrterlebnisses besonderer Art. Der Erfahrungsbericht trägt den Titel: "Dem Himmel so nah. Der Missionar schwebt 14 Sekunden". Der "Wanderheilige" der Kite-Surfszene namens Benjamin, im Bericht auch als Missionar bezeichnet, schildert sein Himmelfahrtserlebnis in Neuseeland:

"Es war kalt, denn es hatte die ganze letzte Woche geschneit. Die umliegenden Gletscher ließen ihr eiskaltes Wasser geräuschlos in den See Wakiputi rieseln, aber dennoch war es dieser Platz, der eine Stunde, eine Minute und 12 Sekunden meines Lebens in Anspruch nehmen sollte. Als ich des morgens durch unsanfte Wiegebewegungen meines Rollhotels erwachte, war mir bald klar, dass der Grund dieser Bewegungen anderer Art war, als das übliche Rütteln des Strafzettelverteilers. Erst als die ersten Schweißperlen auf meiner Stirn glänzten, da es fast ein Ding der Unmöglichkeit war, die Fahrertür gegen den Wind aufzudrücken, entschied ich mich, zur Beifahrertür auszusteigen. Wohl hatte ich die mit Gischt gefüllten wirbelartig gen Himmel strebenden Turbulenzen bemerkt, aber dennoch lies mich einer meiner zahlreichen Hirnrisse den 9 qm Kite (das ist ein großer Gleitschirm) startklar machen und in den Gummianzug zu steigen. Eigentlich wollte ich das alles gar nicht, aber was macht man nicht schon alles, um sich das Leben zu nehmen. (Oder zu geben!)

Der Start verlief glimpflich. Nachdem ich die 30 Meter über Geröllstein gezerrt wurde, war es Zeit, den Schaulustigen etwas zu bieten. Es ging etwa eine Minute lang gut, doch dann entschied sich die Situation außer Kontrolle zu geraten. Harmlos im Wasser liegend, an Harmloses denkend, fing plötzlich etwas an, mich himmelwärts zu ziehen.

Als ich dann schon seit geraumer Zeit ohne Zutun in geraumer Höhe über Neuseeland segelte, hatte ich Zeit, über das nachzudenken, was mir meine Mutter früher schon immer gesagt hat: "Wer hoch fliegt kann tief fallen!" No grab, no twist, no style - noch nicht mal das Brett war an den Füßen - 12 Sekunden Fliegen im Sinne des Erfinders und dann kam der Fall, den mir meine Mutter schon immer vorausgesagt hatte."

Sicher kann man die religiöse Metaphorik dieses Beitrags, die Rede vom "Missionar des Kitesurfens" als Parodie lesen. Charakteristisch für eine spirituelle Erfahrung erscheint mir aber zum Beispiel der Satz "Harmlos im Wasser liegend, an Harmloses denkend, fing plötzlich etwas an, mich himmelwärts zu ziehen." Im Wort "harmlos" ist zunächst jene Haltung individueller Leere und wörtlicher Gleich-Gültigkeit benannt, die das Eintreten in eine anderen Daseinszustand, eine andere Geisteshaltung beschreibt, eine Haltung, die schon beim Wellenreiten als Willensaufgabe charakterisiert wurde. Diese Harmlosigkeit, die hier Benjamin beschreibt, geht einher mit der passiven Erfahrung, dass etwas an ihm geschieht. Ein "etwas" greift hier ein, ergreift ihn samt seinem Schirm und lässt ihn gen Himmel fahren. Das Numinosum ergreift die Führung, und nicht etwa jene Windhosen, die er vorher selbst sachlich umrissen hatte. "No grab, no twist, no stile - noch nicht mal das Brett an den Füßen". In diesem Ausspruch wird der für Entrückungsbewegungen charakteristische Kontrollverlust beschrieben: Nicht ich fliege, sondern etwas fliegt mich, gegen das ich nichts machen kann. Auffällig ist dann auch, dass im Moment des Fluges die religiöse Sinnproduktion unmittelbar einsetzt, der Versuch, dass Unbegreifliche begreifbar zu machen, produziert religio/Rückbindung, Sammlung im wörtlichsten Sinne. In diesem Falle dient eine Lebenswahrheit der Ahnfrau als Mantra: was meine Mutter mir schon immer gesagt hat, "wer hoch fliegt, kann tief fallen!" Als "Fliegen im Sinne des Erfinders" charakterisiert Missionar Benjamin dann seine Erfahrung und er lässt in der Schwebe, wer hier denn der Erfinder ist. Der Allmächtige natürlich, würde ich sagen, aber wir wollen nicht vorgreifen.

Kontrollverlust

Auch in den Skater- und Surfermagazinen dominieren Flugszenen. Viele Aufnahmen zeigen Gleiter in der Luft, die die Kontrolle über ihr Brett verloren zu haben scheinen. Auffällig ist auch hier, dass der Kontrollverlust im Moment der Überwindung der Schwerkraft, der Himmelfahrt, kein Motiv des Scheiterns ist. Diese Flüge provozieren eben gerade eine andere, besondere und offensichtlich erwünschte Art der Selbstverwirklichung.

Das folgende Foto macht dies direkt deutlich:

Skater und Betrachter auf diesem Bild befinden sich auf zwei Wirklichkeitsebenen. Dies wird dadurch anschaulich, dass den irdischen Betrachtern die Köpfe fehlen. Der Skater am Himmel erfährt im warsten Sinne des Wortes - wieder im Moment des Kontrollverlustes über sein Board - (s)eine eigene über-irdische Wirklichkeit. Kann man so weit gehen, diese Wirklichkeit als eine transzendente Wirklichkeit zu beschreiben und sie mit der christlichen Metapher der Himmelfahrt zu bezeichnen?

"Is it a plane or is it a rocket?" "No, It´s Jesus Christ."

Hier ist nun die Fotografie in Betracht zu ziehen, die am Anfang der Spurensuche zum Thema "Everybody is surfin´- Gleiten als Lebensbewegung" stand und die die Vorlage für die Kernthese des Artikels gibt: Das folgende Bild ist eine explizite religiöse Äußerung zum Thema Gleiten als Lebensbewegung, die sich ikonografisch auf die christliche Tradition der Himmelfahrt beruft. Es ist sozusagen das ,missing link' zwischen den Flugbewegungen der Gleiter in der Popkultur unserer Tage und der Himmelfahrt Christi:

"Is ist a plane or is it a rocket?", steht da in alter Schrift. "No, it´s Jesus Christ." Die doppelseitigen Aufnahme zeigt überwiegend Himmel. Am rechten oberen Bildrand ist ein Skater zu sehen. Er fliegt auf einem Board, dass eine Christus-Ikone trägt. Es ist bemerkenswerterweise das Bild Jesu Christi in der Haltung des Pantokrators. Diese Haltung zeigt ihn traditionell nach seiner gelungenen Himmelfahrt. Überraschend ist nicht nur der Slogan, der die Himmelfahrt kommentiert, indem er das Flugobjekt identifiziert. Auffällig ist auch, dass das Gesicht des Skaters unerkannt bleibt, während der Pantokrator Christus klar erkennbar ist. Die Gesichtslosigkeit des Skaters gibt den Betrachtenden die Möglichkeit, wenigstens in der Phantasie in seine Rolle zu schlüpfen. Identifiziert mit dem Himmelsgleiter, können sie im Sinne von Paulus Nachahmer Christi zu werden, mit dem Credo: Christus ist unser Flug-Zeug. Die Bildinszenierung bestätigt noch einmal die These: Menschen suchen gleitend und fliegend zwischen Himmel und Erde die Himmelfahrt, und können ein Stück Himmelfahrt im Bewegungsritual des Gleitens erleben.

"Heaven is a Halfpipe"

Eine weitere Quelle soll hier noch angeführt werden, die diese These, Gleiten sei eine spirituelle Praxis der Himmelfahrt, diesmal akustisch belegt: Im Januar 2001 rückte ein Popsong der Gruppe OEM in die Charts vor, der den Titel "Heaven Is A Halfpipe" trägt. Die Kernaussage dieses Liedes, die im Refrain wiederholt wird, lautet: "Selbst wenn ich hier sterbe, bevor ich aufwache, macht das nichts. Spätestens im Himmel kann ich wunderbar skaten. Denn der Himmel ist eine Halfpipe, die optimale Skateröhre."

Interessant ist die sorgfältige Differenzierung der himmlischen und der irdischen Sphäre im Liedtext. Für das Diesseits gilt: "Here on earth I can´t do jack without that man upon my back." - "Auf der Erde kann ich mich nicht emporschrauben ohne den Mann auf meinem Rücken!" Es bleibt uneindeutig, ob hiermit Jesus Christus gemeint ist oder eine andere, eher niederdrückende Macht. Jedenfalls stellt der Sänger auch in Aussicht: "We´ll be bustin Christs airs until we get to heaven." - "Wir werden Christi Lüfte sprengen, bis wir in den Himmel kommen."

Aus dem Text von "Heaven Is A Halfpipe" geht nicht eindeutig hervor, ob sich die Skater in ihrer freien Religion des Gleitens/Fliegens in einem Konkurrenzverhältnis zum Weltenherrscher oder gar in einer Haltung der Nachfolge bewegen, etwa im Sinne der jesuanischen Aussage Joh 14,3 "Wenn ich gegangen bin und einen Platz für Euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin." Das ,Dass' der eschatologischen Himmelfahrt nach dem Tod wird in dem Lied allerdings voll und ganz realisiert.

Netsurf

Gleiten als Lebensbewegung, als Bewegung zum Leben, als Himmelfahrt. Diese Perspektiven kann man heute nicht stehen lassen, ohne jenen Bereich wenigstens am Rande zu bedenken, in dem das Wort Surfen gegenwärtig wohl die häufigste umgangssprachliche Verwendung findet. Immer mehr Menschen surfen im Internet.

Auch der Surf im Internet bezielt eine Himmelfahrt, allerdings mittels einer Gleitbewegung ganz anderer Art: Der Praktische Theologe Jörg Herrmann schreibt über den virtuellen Raum: "Die entkörperte Welt des Cyberspace erscheint als Ausweg aus der Vergänglichkeit und Endlichkeit des Physischen, aus der Materialität und dem Schmerz des Körpers... Eine neue Betonung des Geistigen greift dabei um sich, die an gnostische Erlösungsvorstellungen erinnert: Der Körper gilt als Kerker, aus dem die Seele befreit werden muß." (J. Hermann, Die religiöse Dimension des Cyberspace. medien praktisch, 2/98, 55)

Wir haben es also im Cyberspace mit Bewegungen zu tun, die sich nicht körperlich manifestieren. Im Cyberspace gibt es keine Körper aus Fleisch und Blut. Internetsurfer versuchen erst gar nicht, mit ihrem eigenen Körper die Schwerkraft zu überwinden und aufzusteigen, sondern legen ihn ab, lassen ihn in endlosem Sitzen verharren und gleiten in ihrer Vorstellung ins Unendliche, das sich aus Bildschirmsimulationen zusammensetzt, und dem, was sich zwischen den Seiten - inter Net - in ihrer Phantasie abspielt.

Engel im Cyber-Himmel

M. Bröckers formuliert seine Vision der Himmelfahrt im Internet folgendermaßen: "Vielleicht kommt dieser Affe, der seit 5000 Jahren Technologie ausspuckt, um die Trägheit seines Körpers abzulegen, erst zur Ruhe, wenn er sitzen bleiben kann - und gleichzeitig in Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist. Dann, so die Vision der Cybernautik, könnte aus dem Affen noch ein Engel werden." (M. Bröcker, in M. Waffender (Hg.), Cyberspace, Hamburg 1991, 97)

Der Traum vom Dasein als Engel verbunden mit irdischer Ruhe: Himmelfahrt. Hier formiert sich eine mentale Spiritualität, die ihren Körperausdruck im Sitzen bleiben hat. Eine körper- und bewegungsorientierte Übung der Himmelfahrt steht dem entgegen, die die Trägheit des Körpers im körperlich leiblichem Gleiten, Springen und Fliegen wie bereits erörtert überwindet.

Beide spirituellen Bewegungsformen, die mentale und die leibliche lassen sich religionsphänomenologisch auch in biblischen Texten, im jüdisch-christlichen Traditionsgut ausmachen: Im rein Imaginären spielt sich beispielsweise die Entrückung Jakobs in Gen 12,12ff ab: Wohlgemerkt steigt nicht Jakob die Himmelsleiter empor. Er sieht vielmehr im Traum - in seinem persönlichen Cyberspace, der mit dem Wirken Gottes vernetzt ist, Engel auf der Himmelsleiter auf und abgleiten.

Die Entrückung Jesu Christi hingegen betrifft seine körperliche Gestalt, wie das Altarbild in Kappeln/Schlei als eines unter vielen Himmelfahrtsdarstellungen wunderbar veranschaulicht. Mit seinem Körper geht Jesus Christus, so glauben es die Christen, denen voran, die eben einer leiblichen Auferstehung entgegenträumen, und nicht nur einer seelisch-geistlichen.

Body experience gegen "Mindcontrol"

Von Seiten der christlichen Tradition wie von Seiten der Gleitapostel lässt sich entsprechend Kritik an den gnostischen Tendenzen der Cyberreligion beobachten. In der Geschichte des Christentums hat sich diese Kritik natürlich immer an den Vorstellungen von der Inkarnation Jesu Christi selbst festgemacht. Schon 110 n. Chr. Geburt stritt die frühkatholische Kirche mit den sogenannten Doketen, die behaupteten, Gott wäre nur zum Schein ins Fleisch gekommen und hätte bei seiner Rückkehr in die Transzendenz seine leibliche Hülle einfach abgelegt. Das Dass der Inkarnation macht aber erst, so muß man in christlicher Perspektive festhalten, eine Himmelfahrt für alle denkbar und möglich.

Im Magazin "lowdown" findet sich neben den ganzen Skaterfotos und Reportagen auch ein kritischer Artikel über "Neuro-Influence-Technology und Mindcontrol". Die Autoren berichten von Manipulationstechniken, die mit der neuen digitalen Simulationsmöglichkeiten einher gehen werden, und warnen vor der Manipulation des Subjektes. Die virtuelle Figur der Telecom mit dem programmatischen Namen Robert T. Online, der digitale blonden und blauäugigen Mann ruft dem Leser zu: EVERYTHING IS UNDER CONTROL!

Der Artikel endet mit dem Satz: "Wir bezahlen heut für die Waffen, die morgen gegen uns eingesetzt werden." Bei aller journalistischen Dramatisierung wird hier doch eine Anthropologie sichtbar, die in der Virtualisierung und der Preisgabe des Körperlichen individuelle Entmündigung und Entmenschlichung drohen sieht.

Auf das Selbstverständnis der körperorientierten Skater scheint also wie auf die christliche Leibidentität zuzutreffen, was H. Hemminger in den Zeitzeichen für das "Sein im Design", das Leben in der simulierten Welt folgendermaßen formuliert: "Die körperliche Existenz wird zur letzten Bastion authentischer Welterfahrung." (zeitzeichen 11/2000, 30) Grundsätzlich scheint das richtig zu sein. Hier ist m. E. in menschlichem und christlichem Interesse einiges zu verteidigen. Problematisch erscheint aber an der Aussage, dass der Körper selbst zu etwas Unveränderlichem und felsenfeste Gewissheit Stiftendem stilisiert wird. Dem ist entgegen zu halten, dass sich Körper und Körpererfahrung verändern und selbst in Bewegung kommen, wenn das Gleiten und der Flug beginnt - sowohl im Bewegungsritual hier als auch in jenem Flug in andere Welten, der noch aussteht. Wie dies indes geschieht, dass scheinen die Gleitenden der Gegenwart (sich) ahnungsvoll zu erfahren.


Der Artikel ist die bearbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor im Februar 2001 auf einer Tagung der Arbeitsgruppe Kirche und Sport "Lebensrhythmen: Biographie und Bewegung" in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg gehalten hat.


© Marcus Ansgar Friedrich 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 11/2001
https://www.theomag.de/11/maf2.htm