Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Cinema mundi

Kinospuren der sechziger Jahre

Karsten Visarius

Geschichte ist ein Produkt der Distanz. Nicht zufällig entlarvt sich die Anmaßung politischer Rhetorik unweigerlich in der Beschwörung des "historischen Moments". Geschichte ist deshalb auch ein Kind der Schrift, ein Geschöpf der Bücherwelt. Im Film hingegen herrscht das Präsens. Filmen heißt eben nicht erzählen, "wie es gewesen ist", sondern, in einer Formulierung des Phänomenologen Vilém Flusser, "geschehen machen". Das hat das Kino nicht davon abgehalten, seine Stoffe immer wieder in der Geschichte zu suchen, die es in sinnlich wahrnehmbare Gegenwart umformt. Die Verfilmung der Passionsgeschichte bereits in den Anfängen des Kinos oder die der russischen Revolution durch Eisenstein ("Oktober") und Pudowkin ("Das Ende von St. Petersburg") sind historische Beispiele für die Attraktion, die Vergangenheit wiederbelebt zu sehen, der Oscar-Gewinner "Gladiator" ein aktuelles. So stellt sich immer wieder die Frage nach dem Schicksal der Geschichte im Medium Film.

Auch die noch gar nicht weit zurückliegenden sechziger Jahre sind, nach dem Epochenjahr 1989 und der Jahrhundertschwelle, bereits Geschichte geworden, Symptom einer beschleunigten Historisierung, die schon das Leben der Zeitgenossen ergreift. Eines der dramatischsten politischen Ereignisse dieses Jahrzehnts inszeniert Roger Donaldson in dem amerikanischen Film "Thirteen Days": die Kuba-Krise 1962. Oder müsste man nicht vielmehr sagen, dass das Dramatische ein (gelungener) filmischer Effekt ist? Ein Eindruck, den wir (erst) als Zuschauer gewinnen? Jedenfalls übersetzt erst der Film das Geschehen, das sich im wesentlichen hinter geschlossenen Türen vollzieht, in die Dramaturgie einer höchst unwahrscheinlichen Rettung in - beinahe - letzter Minute. Es ist die Rettung vor der finalen Katastrophe, die Donaldson in den allerersten Bildern als weißglühend aufsteigenden Pilz einer Atombombenexplosion beschwört, deren Licht die Leinwand zu zerfressen scheint.

Die dreizehn Tage des Filmtitels markieren den Countdown von der Entdeckung russischer Mittelstreckenraketen auf Kuba bis zum nach militärischer Logik unvermeidlichen Beginn der Eskalation, also des atomaren Schlagabtauschs. In diesem "Zeitfenster" müssen die Kennedys versuchen, eine politische Lösung der Krise, eine Verständigung mit den Sowjets herbeizuführen - vor allem gegen die Hardliner des Generalstabs im eigenen Lager. Die Handlung des Films besteht im wesentlichen aus Gesprächen, Beratungen, Verhandlungen, Diskussionen, Konferenzen in den Sälen, Büros und Privaträumen des Weißen Hauses: aus Worten und aus Blicken. In einer Schlüsselszene des Films herrscht Robert McNamara, Kennedys Verteidigungsminister, im Befehlszentrum des Pentagons einen Admiral an, der gerade denn Abschuss von Leuchtspurmunition auf einen russischen Frachter befohlen hat, um die offiziell verhängte Quarantäne durchzusetzen. So sei das übliche Verfahren, verteidigt sich der Offizier. Ob er nicht begriffen habe, dass es um den Versuch einer neuen Form von Kommunikation gehe, brüllt McNamara zurück - ein Satz, dessen Tragweite sich erst der Internet-Generation erschließen wird.

Der französische Medienkritiker Paul Virilio, ein apokalyptischer Geist, hat in den neuen Medien, das Kino eingeschlossen, eine Fortsetzung militärischer Strategien mit anderen Mitteln gesehen. Die mediale Virtualisierung menschlichen Handelns gilt ihm als vorweggenommene Auslöschung des Menschen. Man kann ohne große Mühe aus Donaldsons "Thirteen Days" einen Anti-Virilio-Traktat herauslesen, der nicht Medien als Waffen, sondern Waffen als Medien definiert. Wenn er die Kennedys und ihre Getreuen als Helden der Geschichte zeigt, die uns vor dem Sturz in den Abgrund der atomaren Vernichtung bewahrt haben, so macht er sie zugleich, "metahistorisch" und imaginär, zu Helden des Kommunikationszeitalters, in dem nicht mehr Schlachten, sondern informative Lösungen zu Entscheidungen führen.

Auch das ist ein (Kino-)Mythos. Er hat, unauffällig, aber deutlich genug, eine religiöse Grundierung. Sie kommt in den krisenhaften Zuspitzungen der Situation als Hoffnungsanker ins Spiel. Wenn morgen die Sonne aufgeht, heißt es in der Nacht vor dem Ablauf des Verhandlungsangebots an Chruschtschow, dann nur, weil einige Männer guten Willens "zwischen uns und dem Teufel" stehen. Dem Präsidentenberater Kenny O'Donnell ist dieser Satz in den Mund gelegt - Kevin Costner, der als loyaler Freund der Kennedys, als besorgter Familienvater und als Identifikationsfigur des Zuschauers durch die Schachzüge der Handlung führt. Und als letztes Bild zeigt uns der Film ein Bronzetäfelchen auf Kennedys Schreibtisch mit dem Stoßgebet: Lord, thy sea is so great and our boat is so small.

Aus einer afrikanischen Perspektive trägt der Kalte Krieg, der die Prosperität des Westens nie ernsthaft beeinträchtigte, weniger erbauliche Züge. Es ist statt der Perspektive der Geretteten die der Geopferten. Raoul Pecks Spielfilm "Lumumba", der auf dem Kirchentag in Frankfurt seine Deutschlandpremiere erleben wird, ist dem ersten Premierminister der unabhängigen Republik Kongo gewidmet - am 30. Juni 1960 ernannt, nach nur zwei Monaten Amtszeit gestürzt, verhaftet und im Januar 1961 ermordet. Im Scheitern seiner Utopie eines befreiten, selbstbestimmten und geeinten Landes ist die Geschichte des nachkolonialen Afrika präfiguriert, die gegenwärtig im kriegerischen Zerfall des Kongo, unter Beteiligung der meisten Nachbarstaaten, in neuen Schrecken kulminiert.

Nichts, kein Stäubchen sollte bleiben von Patrice Lumumba. Am Anfang des Films zerstückeln, zersägen und verbrennen die Handlanger seiner Mörder seinen Leichnam, tilgen die Spuren eines Verbrechens, das jüngste Untersuchungen im belgischen "Mutterland" der ehemaligen Kolonie wieder zutage gebracht haben. Weiße verrichten das bestialische Geschäft und widerlegen, wenn es denn noch nötig wäre, den rassistischen Mythos vom Primitivismus der Afrikaner, der noch durch die Zukunftsszenarien der belgischen Regierungsvertreter bei den Verhandlungen über die Unabhängigkeit spukt. In Wahrheit projiziert das rassistische Phantasma die eigene Barbarei auf deren Opfer. Auch die staatsmännische Phrase des belgischen Königs, in der Unabhängigkeit die Errungenschaften der Zivilisation zu bewahren, folgt dem gleichen Überlegenheitsdünkel, der die kolonialistische Ausbeutung zur philanthropischen Gabe verkehrt.

In der historisch überlieferten Antwort Lumumbas auf die Rede des Königs erreicht die Parabel seiner politischen Biographie ihren Höhepunkt - wie der Film, der sie in einer kreisförmigen Rückblende zwischen den Mordszenen am Anfang und am Schluss nachzeichnet. Gegen den Widerstand seiner politischen Verbündeten und die Warnungen seiner Berater nennt er die Dinge beim Namen: die Kolonialherrschaft Unterdrückung, die Unabhängigkeit ein Ergebnis des eigenen Kampfes und die Freiheit ein Recht. Den Beifall der kongolesischen Delegierten und den Jubel der Zuhörer am Radio quer durchs Land montiert der Film zu einem Moment der Euphorie, in dem sich die historische Wahrheit Gehör verschafft.

Raoul Peck porträtiert Lumumba als einen Mann des Wortes. Jenseits der charismatischen Rede fehlt ihm die Macht, die nach der Unabhängigkeit ausbrechenden Unruhen unter Kontrolle zu bringen, die Rebellion der Truppen, die Ausschreitungen gegen die ehemaligen weißen Herren, die Sezession des reichen Katanga unter seinem erbitterten Gegner Tschombé und die konspirativen Manöver ausländischer Mächte, Belgiens und Amerikas vor allem. Der Film versammelt all diese Faktoren und Fraktionen als Elemente einer politischen Analyse der historischen Vorgänge. Die Entscheidung jedoch verlegt er in eine Szene, in der Lumumba zwischen der Treue zu seiner Utopie und Gewalt wählen muss. Im Bruch mit seinem einstigen Protegé Mobutu, der sich auf das Gesetz des Krieges beruft und seine auf das Militär gestützte Machtübernahme später als friedliche Revolution bemänteln wird, besiegelt Lumumba seinen Untergang.

In einem früheren dokumentarischen Filmessay hat Raoul Peck Lumumba als Propheten eines neuen Afrika gedeutet. Das ist ein Bild jenseits der Geschichte. Auch sein Spielfilm arbeitet an der Frage, was von Lumumbas kurzem Leben bleibt. Am Rückgriff auf ein klassisches filmisches Verfahren lässt sich die Antwort Pecks erkennen. Er legt einen Schnitt zwischen Körper und Stimme Lumumbas, trennt sie und montiert sie neu. Schon gegen die Auslöschung seines Körpers zu Beginn erhebt diese Stimme Einspruch und ruft die Bilder zurück. "Erzähle den Kindern nichts," sagt die Stimme, "sie werden es nicht verstehen." Sie bewahrt Lumumbas Worte als uneingelöstes Versprechen, über das Erzählbare hinaus.


© Karsten Visarius 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 11/2001
https://www.theomag.de/11/kv6.htm