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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips VI

Mark Romanek - Music video stills

Andreas Mertin

Einem Geschenk verdankt sich diese sechste Ausgabe der Videoclip-Kolumne im Magazin für Theologie und Ästhetik. Geschenkt bekam ich den 1999 erschienenen Rückblick auf sieben ertragreiche Jahre der Produktion von Musikvideos aus der Hand von MARK ROMANEK. Und so stellt diese Kolumne einmal nicht nur einfach verschiedene mehr oder weniger interessante Videoclips vor, sondern sie folgt der Arbeit eines Regisseurs/Künstlers dieses Genres. Analoge Betrachtungen ließen sich auch bei anderen Regisseuren durchführen, z.B. DAVID FINCHER (Alien 3 / Sieben), der ebenfalls viele Musikvideos gedreht hat.

Der 1959 geborene MARK ROMANEK ist ein Enfant terrible der Videoclip-Szene, der schon mit DAVID BOWIE, MADONNA, MICHAEL und JANET JACKSON, LENNY KRAVITZ, R.E.M., IGGY POP, KEITH RICHARDS und vielen anderen Berühmtheiten zusammengearbeitet hat. Zwei seiner Arbeiten - "Closer" von NINE INCH NAILS und "Bedtime Story" von MADONNA - gehören zur ständigen Sammlung des New Yorker "Museum of Modern Art".

ROMANEK, so schreibt MARK ALICE DURANT in der Einleitung, war vor allem vom Werk STANLEY KUBRICKS beeindruckt und hier insbesondere von 2001: A Space Odyssey, ein Film, den er erstmals als Neunjähriger sah. Mehrere der Clips, die ROMANEK später gedreht hat, zeigen Reminiszenzen an dieses epochale Filmwerk, deutlich erkennbar etwa im Clip zu MICHAEL und JANET JACKSONS "Scream". Beeinflusst ist ROMANEK aber auch durch die unser Bildgedächtnis prägenden Highlights der Medien-, Kultur- und Kunstgeschichte: "In discussing the issue of influence, ROMANEK confesses that it is 'hard to ignore all the stuff you've ingested.' By this he means his early Film influences, the fashions and interior design motifs of his youth, and his love of art. He is a self proclaimed Bibliophile, voracious collector, and media Junkie; hundreds of books line the walls of his Hollywood Office, Monographs an contemporary photographers, Renaissance painters, European designers, the history of film, Dada and Surrealist artists, and a myriad of other visual sources provide Inspiration and starting points for the breadth of his work, the diversity of his style. ROMANEK is a sampler par excellence, but also an Image-maker of startling originality. Ferreting out both familiar and obscure art historical gestures, he invents and recontextualizes imagery into a sometimes hectic, sometimes serene, mysteriously coherent visual language." Und MARK ALICE DURANT ergänzt im Blick auf den Clip "Closer" von Nine Inch Nails: "If music videos came with footnotes, 'Closer' would provide the viewer with enough Information to teach an introductory course an cult figures of modern art." [In der nächsten Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik werde ich der Bedeutung der Geschichte der Bildenden Kunst für Videoclips noch genauer nachgehen. (A.M.)]

"Free Your Mind" von EN VOGUE war das erste Stück, das ROMANEK visualisiert hat. Es ist ein Clip, der noch nicht unkonventionelle Ausbrüche zeigt, ein Laufsteg-Pret-A-Porter-Stück mit ein paar Anspielungen auf surrealistische Kunst, keine eigentliche visuelle Story, kein herausragender Eye-Catcher. Das ändert sich in den folgenden Jahren und findet sicher in den beiden "museal" ausgezeichneten Stücken "Closer" von NINE INCH NAILS und "Bedtime Story" von MADONNA einen Höhepunkt. [Zu MADONNAS Clip vgl. die ausführliche Analyse des Verf. in: Videoclips im Religionsunterricht, Göttingen 1999, S. 139-162.]

Am Bekanntesten von allen dürfte - zumindest im europäischen Kontext - der Videoclip zu MICHAEL JACKSON AND JANET JACKSONS "Scream" sein. Wie bereits erwähnt finden sich hier Anspielungen auf KUBRICKS Kinofilm "2001", aber es wird auch ein Schnellkurs in die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts vorgeführt. Das Geschwisterpaar befindet sich zunächst in Tiefschlaf-Kabinen auf einem CD-Player-ähnlichen Raumschiff und befreit sich durch laute Schreie und erobert/erforscht nach und nach die Räume des Raumschiffes (Gravity, Habitation, Gallery, Media, Meditation, Observation, Recreation). Dieses erweist sich damit als eine Art synthetischer Minikosmos.

JANET JACKSONS "Got 'Til It's Gone" hat ROMANEK sehr lyrisch umgesetzt, eine Stimmungsstudie mit beeindruckenden Bildern, ohne gleich eine komplexe Geschichte zu erzählen.

NINE INCH NAILS "The Perfect Drug" ist sicher ein Markstein im Werk von ROMANEK. Voller verrätselter mystisch-mythischer Bilder. MARK ALICE DURANT beschreibt es so: "'Closer' was censored so severely for what MTV judged as offensive imagery that, to retain professional integrity, ROMANEK took his name off the production credits on the MTV version. 'Closer' pushes the proverbial envelope in terms of the density of imagery, the rapidity of its editing, the complexity of its art historical references, and the lingering power of its imagery to disturb. The video looks as if it were shot at the turn of the century, then left uncovered to decay in the attic of an abandoned house. In fact, ROMANEK did use a vintage Bell and Howell hand-cranked 35mm movie camera. He used unorthodox methods to give the images an aged, distressed appearance, deliberately introducing dust and scratches, and applying lime juice to the film, which ate away at the emulsion. The video begins with a human heart strapped into a chair, its rhythm provided by a primitive steam piston, pumping in syncopation to the opening beats of the song. What follows is a kind of visual orgy, a disturbing travelogue of a profane underworld. Attempting to identify the riot of references in this torrent of imagery would likely give an art historian epileptic seizures.

Natürlich kann man gegenüber den Arbeiten von ROMANEK einwenden, dass sie im Wesentlichen eine Trivialisierung der Hochkultur betreiben, wobei vielleicht der Begriff der "Popularisierung" treffender wäre. ROMANEK beschreibt das selbst höchst ironisch als Bewegung "running out of aesthetics to plunder". Das erweist ihn als Nachfahren der Pop Art vom Anfang der 60'er Jahre. Was mich an ROMANEK schon eher stört, ist der Umstand, dass er seine Arbeit mit Videoclips mehr als Fingerübungen für eine Filmkarriere angesehen hat, statt diese als eigenständige und unabhängige Kunstform zu begreifen.

Dennoch zeigen ROMANEKS äußerst produktive Arbeiten an der Kunstform "Videoclip", wie komplex und kulturell vielseitig dieser Bereich inzwischen geworden ist, wie hoch die ästhetischen Standards sind und dass zum Produzieren von Clips mehr gehört, als nur eine Gruppe oder einen Interpreten beim Auftritt zu filmen. Der Hunger nach narrativen und innovativen Bildern in der populären Musik-Kultur ist unersättlich, die jugendlichen Konsumenten erwarten zu Recht, dass ihnen mehr geboten wird, als nur die visuelle Anreicherung eines Musikstücks.

Videoclips von Mark Romanek
1992 En Vogue Free Your Mind
k.d. lang Constant Craving
Keith Richard Wicked As It Seems
1993 David Bowie Black Tie, White Noise
David Bowie Jump, They Say
Iggy Pop Beside You
Lenny Kravitz Are You Gonna Go My Way
Madonna Rain
1994 G. Love & Special Sauce Cold Beverage
Nine Inch Nails Closer
1995 Madonna Bedtime Story
Michael Jackson and Janet Jackson Scream
R.E.M. Strange Currencies
1996 Beck Devil's Haircut
Eels Novocaine for the Soul
Sonic Youth Little Trouble Girl
1997 Fiona Apple Criminal
Janet Jackson Got 'Til It's Gone
Nine Inch Nails The Perfect Drug
1998 Lenny Kravitz If You Can't Say No

© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 11/2001
https://www.theomag.de/11/am28.htm

 
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Andreas Mertin, Videoclips im Religionsunterricht, Göttingen 1999
Mark Romanek, music video stills, 1999
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