Schönheitsglück und Fußschmerzen in Venedig

Sieben Skizzen

Hans-Jürgen Benedict

Lutheraner in Venedig, eine kreative Minderheit

Gegenüber der Chiesa dei Santi Apostoli liegt die ehemalige Scuola del Angelo Custode. Sie ist seit über 200 Jahren Sitz der kleinen lutherischen Gemeinde Venedigs. Diese ist wahrscheinlich die älteste lutherische Gemeinde außerhalb Deutschlands. Es gibt einen Brief Luthers an die Gemeinden in Venetien und Venedig aus dem Jahre 1543, in dem er sich über die Verbundenheit mit ihnen freut (Das ist auch das Jahr, in dem er seine antijüdische Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ verfasste).

Wie konnte sich eine evangelische Gemeinde in Venedig ausbreiten? Vorbereitende Gedanken gab es bei den Humanisten und Renaissance-Anhängern, wie gerade eine schöne Ausstellung über den Bücherhersteller Aldo Manuzio in der Accademia zeigt. Dass der Glaube und nicht gute Werke entscheidend sind, dieser Gedanke findet sich schon 1511 bei dem gebürtigen Venezianer und späteren Kardinal Contarini. Ein Mönch predigte lutherisch unter großem Zulauf.

Sodann spielte merkwürdig genug eine vene­zianisch-städtische Eigenart eine fördernde Rolle. In dem auf Selbständigkeit wie auf seine Reinheit bedachten Venedig war die Segregation der verschiedenen Ethnien Prinzip von Stadtpolitik und Wohnungsbau. So war das quadratische Fondaco dei Tedeschi 1505 neu gebaut (jetzt renoviert von Benetton, wird demnächst als Einkaufsgalerie eröffnet) quasi ein Ghetto im Kleinen. Hier wurden die als Handelspartner sehr wichtigen deutschen Kaufleute konzentriert wie andere ethnische Gruppen, die Dalmatiner, Griechen, Armenier, Albaner, Türken in anderen Stadtteilen. 1479 wurde beschlossen bei Einbruch der Dunkelheit die Fenster des Fondaco zu schließen und die Türen von außen abzusperren. Als man von der Ausbreitung der Reformation in Venedig stärker Notiz nahm, wurde 1531 verfügt, dass alle Deutschen im Fondaco leben, Spione sollten Anzeichen von Ketzerei aufspüren. Auch hier wirkte die Inquisition und im Laufe eines halben Jahrhunderts wurden über 200 Evangelische als Ketzer angeklagt und einige von ihnen nachts in der Lagune vor dem Lido ertränkt.

Dennoch durften im 16. und 17. Jahrhundert die lutherischen Christen unter den deutschen Kaufleuten am Rialto in der Fondaco dei Tedeschi Gottesdienste feiern, wenn sie damit kein öffentliches Aufsehen erregten. So wurde ein Pfarrer zum Arzt erklärt und verzichtete auf liturgische Kleidung. Mit Napoleon kam 1797 die Religionsfreiheit, unter den Habsburgern wurde sie wieder eingeschränkt. 1815 schenkte ein deutscher Kaufmann (der übrigens als Baby vom Patriarchen Venedigs getauft worden war) den lutherischen Venezianern das Gebäude, über dessen Portal ein helfender Engel angebracht ist. Im ersten Stock, wo sich der Kirchsaal befindet, ist an der Altarwand ein Gemälde Sebastiano Riccis zu sehen, das einen Engel zeigt, der ein Kind aus den Klauen des Teufeldrachens rettet. (Die Bruderschaft des helfenden Engels unterstützte zu ihrer Zeit Witwen). Flankiert wird es rechts von einem segnenden Christus Tizians, der eine durchsichtige Glaskugel in der Hand hält (wohl aus dem Bestand des Fondaco dei Tedeschi) und links von einem kleinen Cranach-Por­trät des älteren Luther (ein Geschenk des dänischen Königs Frederik IV an den Pfarrer der Gemeinde in Venedig). So kann die kleine lutherische Gemeinde mit 80 Mitgliedern immerhin mit zwei veritablen Kunstwerken die Besucher erfreuen. Denn an zwei Tagen in der Woche wird die Kirche für ein paar Stunden offengehalten. Zahlreiche Venedig-Touristen, die von der Strada Nuova zur Rialto-Brücke gehen, kommen hier vorbei, sehen die Werbetafel mit dem Bild Luthers und schauen hinein. Oft sind sie erstaunt, in dem katholischen Venedig eine evangelische Kirche zu finden, manche sind erfreut, einmal nicht in einer Kirche auf die meist traurig blickende schöne Madonna mit dem Jesuskind und dem Johannesknaben plus musizierenden Engel und die brillant in Szene gesetzten biblischen Hauptdramen vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht zu treffen. Nicht wenige setzen belehrt über die kreative Rolle einer kleinen religiösen Minderheit, die sich heute ökumenisch engagiert, sie ist Teil einer Friedenskoalition der venezianischen Religionsgemeinschaften, ihren Weg fort.

Die Gemeinde mit ihren 80 Mitgliedern in Venedig und auf dem Festland (dort hat sie eine Kirche in Abano Terme) zeigt kulturelle Präsenz – es gab 2015 eine interessante Barlach-Ausstel­lung und zum Reformationsjubiläum 2017 soll das Gebäude von dem Berliner Lichtkünstler Philipp Geist illuminiert werden. Am Sonntagnachmittag ein hebräisch-romantischer Liederabend mit Liedern von Mendelssohn, Mahler und Viktor Ullmann, leider von einem allzu dröhnenden jungen Bariton vorgetragen, der den Witz und die Finesse dieser Lieder nicht rüberbringen konnte. An dem ramponierten schräg klingenden Klavier schlug sich die aus Japan stammende Pianistin wacker und spielte die schwierige Klavierbegleitung zu Mahlers Himmlischen Leben mit Bravour - eine wahre Tochter der heiligen Cäcilie: „Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden ... Die himmlischen Stimmen ermuntern die Sinnen, dass alles vor Freuden erwacht.“

Vielleicht könnte man, dachte ich, die Venedig-Touristen mit einer täglichen Kurzandacht beglücken, bei der die vom venezianischen Pflaster-Treten müde gewordenen Füße (wenn gewünscht) gewaschen werden, somit etwas Sinnliches der christlichen Caritas vermitteln. Oder man könnte ihnen einfach die Gelegenheit geben, zu einer Meditationsmusik sich fünf Minuten auf einem Stuhl auszuruhen, sie dabei mit einem Becher kalten Wassers (Mt 10,42) erfrischen, auch wenn sie nicht alle Jüngerinnen Jesu sind …

2.500 Jahre Ghetto in Venedig- Ausgrenzung und Schutz

Eine immer wieder bedrängte, aber wegen ihrer ökonomischen Funktion doch gelittene und für Venedig wichtige Minderheit war und ist die der Juden, deren Ghetto 2016 sein 500jähriges „Ju­bi­läum“ begeht, wenn man das so sagen darf. (Jubiläum geht ja auf die Institution des Jobeljahrs zurück, das nach dem Buch Leviticus alle 50 Jahre eine Wiederherstellung des Naturzustandes an Besitz, nämlich keinen, fordert). Im Jahr vor Luthers Thesenanschlag in Wittenberg also wurde den venezianischen Juden auferlegt, fortan nur in einem bestimmten Bezirk im Stadtteil Cannareggio zu wohnen. Anlass war die Niederlage Venedigs gegen die Liga von Cambrai, die wieder einmal zu Attacken gegen die Juden geführt hatte. Sie sollten nun, abgesondert von der übrigen Bevölkerung, was die Kanäle ermöglichten, Tag und Nacht kontrolliert von christlichen Wächtern im Canareggio wohnen. Der Bezirk hieß so, weil sich dort eine Gießerei befand, venezianisch getto (von gettare gießen) Ghetto Nuovo. Dort lebten die italienischen und deutschen Juden, im Jahr 1541 kam (merkwürdige Umkehrung der Entstehungszeiten) das sogenannte Ghetto vecchio hinzu, wo die levantinischen Juden lebten, dann noch das Ghetto Nuovissimo im Jahre 1643 für die Sephardischen Juden. Ghetto wurde vor allem das Wort für einen Zustand der Segregation, Absonderung und Diskriminierung, der zugleich Schutz bedeutet, bis er dann mit dem schrecklichen Warschauer Ghetto, dem ersten Ort der Vernichtung vor dem Massenmord in den KZs, zu einem Synonym für mörderische Unterdrückung wurde.

Im Unterschied dazu war das venezianische Ghetto trotz aller Diskriminierung auch ein Schutzraum; hier waren die Juden vor Pogromen sicher, die sich in anderen Städten regelmäßig vor christlichen Festtagen oder in Krisenzeiten entluden. Dominierend war laut Richard Sennett die Angst vor Ansteckung durch die jüdischen Körper. Der zur Verfügung gestellte städtische Raum war aber klein, so musste in die Höhe gebaut werden bis hin zu sieben Stockwerken. Heute ist das Ghetto in Venedig nicht nur ein Freiluftmuseum jüdischer Lebensweise früherer Jahrhunderte, sondern ein lebendiger Ort, an dem immer noch Juden leben, an dem es jüdische Einrichtungen gibt wie ein Altersheim, eine Bank und ein Museum. Vor allem aber aktive und schön restaurierte Synagogen. Eine Führung durch die Synagogen durch einen witzigen Guide (Al Pacino, der den Shylock in einem in Venedig gedrehten Merchant of Venice-Film spielte und kein Italienisch verstand und der Rabbi, der kein Englisch sprach, unterhielten sich angeregt, weil ,so der Guide, Gott dolmetschte) und vermittelte einen schönen Einblick in das jüdische religiöse Leben. in einer Synagoge gibt es auch Abbildungen zu biblischen Geschichten. Unter anderem ist Mose am Sinai zu sehen.

256 venezianische Juden starben in den Konzentrationslagern. An einer mit Stacheldraht versehenen Mauer des Ghetto Nuovo erinnert ein Mahnmal mit sieben Tafeln an sie. Heute leben noch 40 Juden im Ghetto, in ganz Venedig an die 440. Im koscheren Gam-Gam-Restaurant habe ich im Sonnenschein am Kanal sitzend Gefilte Fisch gegessen, eine gut schmeckende Fisch-Pastete mit Sausse.

Der Kaufmann von Venedig- im Film und im Roman

In der Casa de Cinema, dem kleinen Club-Kino einer Vereinigung von Cineasten, am S. Stae wird The Merchant of Venice mit Al Pacino in der Rolle des Shylock gezeigt. Gedreht wurde der Film an Originalschauplätzen in Venedig, vor allem der Beginn an der Rialto-Brücke und die Gerichtsverhandlung. Wer ist hier der Jude und wer der Kaufmann, fragt die als junger Anwalt verkleidete Portia. Besonders in der Verhandlung, in der Shylock sein Pfund Fleisch einklagt und trotz aller Bitten und angebotenen Auswege unnachgiebig darauf besteht, überzeugt Pacino als Shylock. Mit dramatischer Einfühlung zeigt Shakespeare nicht so sehr die angebliche Unmenschlichkeit des Juden als die eines zutiefst gedemütigten Menschen, der sich an seinem Peiniger Antonio, der ihn anspuckte und einen Hund nannte, rächen will. Es ist, wie Heine mit Recht bemerkt weniger die Rachsucht eines Juden als die eines Unterdrückten, und das bringt Shylock in dem berühmten Monolog ja auch überzeugend zum Ausdruck. „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht (…) und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen. Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir es auch darin sein.“ Er wird schließlich von Portia ausgetrickst und verliert zusätzlich zur Tochter auch seinen Besitz. Indem Shakespeare aber in dem judenfreien England den Juden zum Typ des auf Profit bedachten Kaufmanns macht, nährt er das Vorurteil gegen die reichen Juden. Das Vorurteil, früher religiös begründet, sie töteten unseren Heiland, ist beim Volk nun rein materiell geworden. Heine bemerkt dazu:

 „Im Mittelalter(…) gab man die Geldgeschäfte in die Hände der Juden (…) Man zwang sie reich zu werden und haßte sie wegen ihres Reichtums; und obgleich jetzt die Christenheit ihre Vorurteile gegen die Industrie aufgegeben hat und die Christen in Handel und Gewerbe ebenso große Spitzbuben und ebenso reich wie die Juden geworden sind: so ist dennoch an diesen letztern der traditionelle Volkshaß haften geblieben, das Volk sieht in ihnen noch immer die Repräsentanten des Geldbesitzes und haßt sie.“ (Heine, Sämtliche Schriften, Bd 4,260f).

Howard Jacobson hat in der Reihe von Neuerzählungen eines Werks von Shakespeare im Shakespeare-Jahr 2016 durch zeitgenössische Schriftsteller (Hogart Press/Knaus Verlag) einen Roman mit dem Titel Shylock veröffentlicht. Den habe ich mit nach Venedig genommen und hier zu Ende gelesen. Er spielt im England der Gegenwart, beginnt auf einem Friedhof, wo der reiche jüdische Kunsthändler Strulovitsch auf den Juden Shylock trifft, der sich auf diesem Friedhof mit seiner verstorbenen Frau Lea unterhält. Strulovitsch hat ein Problem: Seine aufmüpfige Tochter Beatrice ist in die Kreise der leichtfertigen Erbin Plurabelle (sie moderiert eine Fernsehshow) und ihres persönlichen Beraters D’Anton geraten. Nicht der richtige Umgang für ein jüdisches Mädchen, klagt der äußerst besorgte und jähzornige Vater sein Leid seiner Zufallsbekanntschaft Shylock. Dieser rät aufgrund seiner eigenen Erfahrungen zur Geduld. Doch als Beatrice sich auch noch mit dem Fußball-Beau und Unterwäsche-Model Howsome einlässt, sieht ihr Vater rot. Er verlangt, dass Howsome zum Judentum konvertiert. Mit Hilfe einer kleinen Operation ließe sich dann manches arrangieren. Doch Shylock, der in der verlangten Beschneidung eine Parallele zu seiner Vertragsklausel „ein Pfund Fleisch“ sieht, rät ab. Inzwischen hat sich D’Anton, der von Strulovitch ein Bild für einen jungen Freund erwerben will, bereit erklärt, anstelle von Howsome das Beschneidungsritual über sich ergehen zu lassen. Shylock fragt D’Anton, ob er die Bedingungen für gerecht hält. Der antwortet zögernd. Ja, so eben. Daraufhin trägt Shylock Portias ‚christliche‘ Antwort auf Shylocks „Wieso muss ich barmherzig sein?“ aus Shakespeares Merchant vor: „Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang, sie träufelt wie des Himmels milder Segen … Sie hat ihren Thron im Herzen der Könige, ist gar ein Attribut Gottes selber“. Und er lässt eine Auslegung dieses Satzes folgen, ja fast eine Predigt, die dazu ermuntert, im Geist von Gottes Liebe zu handeln, Barmherzigkeit auch den Feinden zu zeigen. „Zeige Mitleid um des Mitleids willen und nicht zum Nutzen deiner Seele.“ Doch Strulovitch will davon nichts wissen, er will die Beschneidung. Die überraschende Lösung – der behandelnde Chirurg teilt mit, dass D’Anton, aufgewachsen auf der südlichen Halbkugel, bereits beschnitten sei. Und man könne nicht jemanden zwei Mal beschneiden. Beatrice kehrt nach Hause zurück, zur Freude des Vaters, der das Kritteln aber nicht lassen kann. Der Roman spart nicht mit Kritik an der kulturellen Verfasstheit des gegenwärtigen England und am weiter bestehenden Antisemitismus. Strulovitch ist ein unangenehmer Typ, scharfsinnig und polemisch, Shylock aber hat sich gewandelt, seine Trauer um Lea und Jessica hat ihn verändert. Ich komme mit einer jungen Chinesin ins Gespräch, die in London Paläontologie studiert – ich erkläre ihr, was ich lese, ah, sagt sie lächelnd „the Businessman of Venice“.

L’Amico Fritz. Eine überraschende Bibelstunde in La Fenice

Endlich kann ich im neo-barocken Opernhaus Venedigs, dem Teatro La Fenice, eine Opernaufführung erleben. Entweder wurde bei meinen früheren Aufenthalten nicht gespielt oder die Renovierung nach dem Brand war noch nicht abgeschlossen. Ich entscheide mich nicht für Verdis La Traviata, das hier uraufgeführt wurde ebenso wie der Rigoletto. Sondern für eine Oper, die ich noch nicht kenne – für Pietro Mascagnis L’Amico Fritz, eine lyrische Oper. Es handelt sich um eine Eheanbahnungsgeschichte, die im Elsaß spielt und in der ein Rabbiner (!) den Gutsbesitzer und bewussten Junggesellen Fritz mit der hübschen Bauerstochter Suzel verbandelt. Es geht darum, dass die beiden zwar ineinander verliebt sind, aber sich ihre Gefühle nicht eingestehen wollen, zum Teil wegen der Standesunterschiede, zum Teil aus Schüchternheit. Der Rabbiner sieht das. Als ihm Suzel einen Becher Wasser reicht, erinnert er an die biblische Geschichte von Abrahams Knecht Elieser, der für Isaak auf Brautsuche im Land der Väter geht. Als er von Rebekka einen Krug Wasser gereicht bekommt und freundlich eingeladen wird, weiß er: dies ist die rechte Frau für Isaak. Diese Väter bzw. Müttergeschichte, von Suzel vorgetragen, scheint der thematisch-musikalische Schlüssel für diese Oper. Ich bin berührt davon, wie selbstverständlich und musikalisch anrührend diese biblische Geschichte erzählt wird(ich hatte sie längst vergessen) als sei es ganz normal, auf die biblische Tradition zurückzugehen in der wichtigen Frage der Liebeswahl. Und dass nun ein Rabbiner die Rolle des Heiratsvermittlers übernimmt, ist auch merkwürdig. Daneben sorgt noch ein Zigeuner namens Beppe, den Fitz einmal in einer stürmische Nacht gerettet hat, für musikalische Folklore. Mascagni, weltberühmt allein durch seine veristische Cavalleria rusticana, zeigt sich als ein versierter Komponist, der auch anders kann. (Es gibt einen kleinen Aufsatz zu Mascagnis 80. Geburtstag von – Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1934). Die Inszenierung von Simona Marcini arbeitet geschickt mit einer Holzrahmenkonstruktion, in die die Spielfläche wie eine Guckkastenbühne eingelassen ist, die einen hyperrealistischen Blick in die elsässische Landschaft erlaubt. Die Farbe des Rahmens hellt sich im Laufe der Oper, analog zum happy ending, zunehmend auf. Das große Liebesduett mit dem Preis der Liebe als Kraft des Universums (ähnlich wie in La Traviata) ist mitreißend komponiert und wird passabel gesungen. Ein angenehmer Opernabend in dem von Gold und Rot glänzenden Theater. Neben mir ein dänisches Paar, das mir die neue Kopenhagener Oper empfiehlt. Ich weise sie auf die Elbphilharmonie hin. Übrigens: Einer der ersten Venedig-Krimis von Donna Leon spielt in La Fenice: „Mord in der Oper“. Heute abend blieb alles friedlich …

Ein paar Tage später wieder in La Fenice, dies mal ein Kammerkonzert – Il Ritorno di Casanova nach der Erzählung von Arthur Schnitzler, in Auszügen vortragen von einem italienischen Schauspieler. Der alt gewordene Casanova, an einem Werk über Voltaire arbeitend, auf dem Weg zurück nach Venedig, verliebt sich in eine junge kluge, philosophisch gebildete, aber unnahbare Schönheit Marcolina. Als er feststellt, dass sie ein Verhältnis mit einem eleganten jungen Leutnant hat, erzwingt er in einer Intrige eine Liebesnacht mit dem Mädchen. Er tötet den Leutnant im Duell und wird in Venedig von den Machthabern als Spion, der die Freigeister der Stadt ausspionieren soll, willkommen geheißen. Eine desillusionierende Erzählung – dazu aber konträr romantische deutsche Klaviermusik und Lieder von Schubert, Mendelssohn, Schumann, vorgetragen von Monica Bacelli und Pietro De Maria. Ich bin überrascht und beglückt, Schumanns Eichendorffvertonung In der Fremde zu hören („Aus der Heimat hinter den Blitzen rot kommen die Wolken her …“), ein paar Klaviertakte aus Der Lindenbaum, dann Auf dem Fluss und Der greise Kopf aus der Winterreise, Mendelssohn Frühlingslied sowie das venezianische Gondellied, Hugo Wolf, sogar Schönberg. Fragte mich aber, verstehen das die Italiener (es gab kein Programmheft). Und wie passt das zu Schnitzler (den ich kaum verstand)? Aber es war schön, in der Fremde vertraute Klänge zu hören. Und mir wurde wieder deutlich, wie einmalig und schön die deutsche Liedkunst ist - „bald ruhe ich auch, und über mir rauscht die schöne Waldeinsamkeit und keiner kennt mich hier.“

Venedigs museale Kirchen und die Alltagsreligion.

Venedig ist ein großes Kirchenmuseum, vergleichbar nur mit Florenz und Rom. Ein sog. Chorus-Pass erlaubt den kostenpflichtigen Besuch von 17 ausgesuchten Kirchen, längst nicht alle habe ich geschafft. Santa Maria Formosa mit seinen Renaissance-Altären, Santa Maria dei Miracoli, das kleine Renaissance-Schmuckstück und die riesige Santa Maria Gloriosa dei Frari, mit der Grabplatte Monteverdis, dem Grabmal für Canova, der in drei Schichten konstruierten Himmelfahrt Mariens und der Pesaro-Madonna Tizians, auf der zum ersten Mal die Madonna mit dem Kind aus der Bildmitte gerückt wird, die Santissimo Redentore, das Meisterwerk Palladios (in der gerade eine Trauung stattfand), die gotische Kirche Santo Stefano mit Werken Tintorettos, San Vidal, jetzt Ausstellungshalle, mit einem stolzen „ Hl. Vitalis auf dem Pferd“ von Carpaccio (ich muss an die hübsche Parodie „Der schlimm-heilige Vitalis“ von Gottfried Keller denken, wo er zu einem guten Ehemann gemacht wird) und Santa Maria del Giglio mit den Festungsstädten Venedigs an der Renaissance-Fassade (auch eine Variante von „Ein feste Burg“). Dazu wird in der Chorus Map noch auf 40 andere sehenswerte Kirchen hingewiesen – San Zaccaria mit Giovanni Bellinis Sacra Conversiazone, sehenswert ist noch die gotische Krypta mit polychromen Altar, ihr Boden mit Wasser vom nahen Kanal gefüllt, San Giorgio Maggiore auf der Guidecca mit den gegenübergestellten Großgemälden Manna-Speisung und Abendmahl Tintorettos, Santa Maria dell Salute, das allein in der Sakristei viele eindrückliche Gemälde (darunter das Doppelgemälde von Salviati mit dem Speerwurf Sauls auf den Laute spielenden David, eine Szene ,die mich seit meiner Kindheit beeindruckt und die ich so gemalt noch nie gesehen habe), die gotische Kirche Madonna dell’Orto mit schöner Statuenwestwand und einem eindrucksvollen Johannes der Täufer von Cima de Conigliano – er steht vor einem antiken teilzerstörten Tempel, in dem eine Eule, der Vogel der Minerva, sitzt. Einerseits den Sieg des Christentums über die Antike illustrierend ist es doch zugleich ein Verweis auf die Renaissance eben dieser Antike in Malerei und Bildhauerkunst. Tintoretto ist in dieser Kirche begraben, die mehrere Gemälde von ihm zeigen kann, vom Tempelgang Mariens bis zum Jüngsten Gericht. Doch ehrlich gesagt, ist mir die gewaltig ausgreifende Bibeldarstellung des Jacopo Robusti inzwischen zu oberflächlich illustrativ geworden. Sie transportiert keine besondere Botschaft mehr (deswegen bin dieses Mal auch nicht in die Scuola di San Rocco gegangen).

Aber in den Kirchen wird die Messe gefeiert. Im Abendgottesdienst von Santa Maria Formosa sind 15 Gläubige versammelt und mein bisschen Italienisch reicht gerade aus, um die Lesung aus Mk 12, das Doppelgebot der Liebe, gut zu verstehen – du bist nicht fern vom Reich Gottes, antwortet Jesus zum Schluss dem Schriftgelehrten. Tröstlich sagt dies der Priester der kleinen Schar zu. Auf die Besonderheit der Markus-Version geht er aber, soweit ich es verstehe, nicht ein. Nur bei Markus antwortet Jesus dem Schriftgelehrten, wie es ein frommer Jude tut, auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot mit dem Schemah Jisrael: „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist Herr allein.“ Das wird oft überlesen. Übersehen kann man in der schönen Kirche auch den kleinen Tondo, der die Beschneidung Jesu am achten Tage darstellt. Er ist weit oben über einem Seitenaltar angebracht. Später sehe ich in der Galleria Cini noch einmal eine größere Darstellung der Beschneidung Christi – einige Gestalten auf dem Bild tun das, was auch wir heute tun, wenn wir uns mit dem Thema beschäftigen – wir ziehen ängstlich die Mundwinkel und Augenbrauen hoch. Ein anderes Mal trete ich in eine Kirche ein, welche war es noch, ein Silberpaar, das offensichtlich gerade gesegnet wurde, geht zurück zu seinem Platz. Der Priester liest das Evangelium Luk 15, die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen. Es ist mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut als über 99 Gerechte. In einem Kino-Film Fiore (von Claudio Giovannesi, in Cannes gezeigt), den ich mir im Kino Giorgione anschaue, er handelt von der kleinkriminellen Daphne, die wegen einiger Raubüberfälle, sie klaut Passanten ihr Handy, in den Jugendstrafvollzug muss, wird zwei Mal der Gefängnisgottesdienst gezeigt – er ist Gelegenheit für Daphne mit einem anderen Sträfling, Valerio, der im Jungentrakt sitzt, Blicke und kleine Botschaften auszutauschen. Ja, so ähnlich war das in früheren Zeiten, als Liebende sich in der Kirche kennenlernten, in der Realität wie im Theater: der gewissenlose Prinz von Guastalla, der Emilia Galotti in der Kirche sieht, begehrt und seine Kreatur Marinelli auf sie ansetzt. Oder in Verdis Rigoletto, wo der Herzog von Mantua die von ihrem Vater eifersüchtig behütete Gilda trifft. In dem italienischen Film, in dem die Gefängnisgottesdienste eine keimende Liebe möglich machten, treffen sich Daphne und Valerio einige Zeit nach ihrer Freilassung zufällig wieder, geraten erneut mit der Polizei in Konflikt. Als sie diese flüchtend endlich abhängt haben, schauen sie sich unsicher an … ja, was bringt die Zukunft für sie?

Entdeckungen und Überraschungen

Endlich gesehen die Sacra Conversazione von Giovanni Bellini in der Kirche San Zaccharia!! Es wird zu Recht als ein Hauptwerk gerühmt. Überwältigend der fließende Übergang von Bildillusion und Altararchitektur. Wunderbar die innige Ergebenheit der Figuren, jede für sich versonnen nach unten blickend, sie sind sozusagen schweigend ins Gespräch vertieft bzw. in ihre Meditation des künftigen unvermeidbaren Leidens Christi, dieser wird als kleines Kind unschuldig nackt und aufrecht stehend von der Mutter, eine junge schöne Venezianerin, gehalten.

Grazil hebt er segnend die rechte Hand, den linken Fuß wird er gleich in die Hand der Mutter setzen. Ein infantiler milder Pantokrator. Über dem Thronsitz der Madonna das bärtig-ernste Kopf Gottes. Katharina zur Rechten mit Siegespalme und dem zerbrochenen Rad, auf das sie sich leicht stützt. Zur Linken die Heilige Lucia, die in einem Glas aus Murano ihre Augen darbietet. Zu Füßen der Madonna ein die Bratsche spielender Engel. Rechts außen, wo sich der Blick ein wenig in die Landschaft öffnet, ein nach unten blickender Petrus mit den Schlüsseln, auf der andern Seite ein in einem Buch(seiner Bibel-Übersetzung?) lesender Hieronymus. Das Gemälde versammelt die Andacht der Beteiligten, in die es den Betrachter hineinzieht, es zeigt zugleich mit Glas, Viola und Buch kulturelle Leistungen Venedigs.

Die zweite überwältigende Sacra Conversazione hängt in der Accademia. Das Heiligenprogramm ist hier noch vielfältiger – sechs Heilige, darunter Sebastian, sowie zu Füßen der Madonna drei musizierende Engel. In der Accademia berührte mich aber mehr noch eine andere Madonnendarstellung Giovanni Bellinis – die Jungfrau mit dem schlafenden Jesus in ihrem Schoß, er liegt dort wie der vom Kreuz genommene tote Christus, der von Maria in den Darstellungen der Pieta in den Armen gehalten wird. Zum ersten Mal gesehen auch Giovannis Bellinis „Darstellung Jesu im Tempel“ in der Pinacoteca des Palazzo Querini-Stampalia – auf dem Maria dem ernsten Simeon einen bis zum Hals gewickelten Jesus hinhält. Und im Museo Correr seine Pieta, in der zwei traurig blickende Putten den leicht nach vorn gebeugten toten Christus halten. Einige Räume weiter eine teilzerstörte Pieta Antonio di Messinas, auf der drei Engel mit spitzen Flügeln, die wie überdimensionierte Fledermausflügel ins Bild ragen, den sitzenden toten Christus stützen, zwei beeindruckende Beispiele für den Darstellungstyp der Engel-Pieta. In der Galeria Franchetti im Ca’d’Oro einen erhaben schmerzlich schön in seiner Nische stehenden, von vielen Pfeilen durchbohrten Heiligen Sebastian Mantegnas und einen wunderbaren Knabenkopf. Im Hof kann man gotische Stimmung atmen, wobei ich vergeblich zu einer schönen Italienerin Kontakt aufzunehmen versuche. Hätte ich doch vorher besser ihre Sprache gelernt!

Eine wunderbare Überraschung ist die Darstellung der Heiligen Georg, Triphonius und Hieronymus in der Scuola di St. Giorgi degli Schiavoni, dem kleinen Bruderschaftsgebäude der dalmatinischen Kaufleute direkt am Rio Agostino. In einem Raum „von der Größe eines Gästezimmers in einem altmodischen englischen Pub“ (so John Ruskin) befindet sich einer der großen Kunstschätze Venedigs, der Gemäldezyklus, den Vittore Carpacccio zwischen 1502 und 1508 schuf. Von ihm kannte ich bislang nur die Grablegung Christi in der Berliner Gemäldegalerie, die mit ihren schauerlichen Leichenteilen die Gottverlassenheit der Welt nach dem Tod Christi zeigt.

Mit der Darstellung des Hl. Georg, der inmitten herumliegender menschlicher Überreste der Opfer des Untiers entschlossen dem Drachen seine Lanze in Rachen stößt, rechts von ihm die betend zuschauende Prinzessin, knüpft Carpaccio zwar daran an. Doch zugleich ist das Gemälde von einer heiteren Stimmung erfüllt; im Hintergrund des Bildes sind ein leuchtender Himmel und ein märchenhaft grünes Meer gemalt, ein Felsentor, hinter dem ein Schiff auftaucht. Jedes dargestellte Objekt folgt einer Anordnung, die einen räumlichen Glanz irdischer Schönheit erzeugt. Eine anmutige orientalische Stadt, eine perspektivische Reihe von Palmen ,die ziehenden Schiffe, die leichten Wolken – die Akteure entschieden in ihrer Rolle, auch der Drache, der einem irgendwie leid tut. Ein Schauspiel vollzieht sich in jenem Glanz, den wohl nur die Renaissance ausstrahlen konnte in jener Versöhnung von Antike, Christentum und Schönheit, die unser Reformator in Wittenberg nie so richtig begriffen hat, wie Heine einmal anmerkte: „Die Maler Italiens polemisierten gegen das Pfaffentum vielleicht weit wirksamer als die sächsischen Theologen. Das blühende Fleisch auf den Gemälden Tizians, das ist alles Protestantismus. Die Lenden seiner Venus sind viel gründlichere Thesen als die, welche der deutsche Mönch an die Kirchentüre von Wittenberg geklebt.“ (Sämtliche Schriften Bd.3, 370)

Prächtig auch das nächste Bild, der Triumphzug des Ritters, der dabei ist dem gefesselten Drachen den Kopf abzuhauen. Gegenüber die Darstellung des Hl. Hieronymus, der den Löwen, dem er wohl gerade den schmerzenden Nagel rausgezogen hat, ruhig ins Kloster führt, während die Mönche erschrocken davonlaufen. Außerordentlich kühn ist die parallele fast ballettartige Darstellung der fliehende Mönche in ihren sich bauschenden grün-weißen Gewändern, eine Bewegung, die im Hintergrund noch einmal an einer Treppe mit eilends hochsteigenden Mönchen aufgenommen wird.

Im nächsten Bild, der Beerdigung des Heiligen Hieronymus, der auf der Erde liegt, umgeben von seinen Brüdern, die gefasst ernst das Totenamt lesen – gefühlvoll distanziert sieht Carpaccio ihnen zu und lässt zugleich auf zwei Dritteln des Bildes eine Szene mit eher ländlichen Häusern, Tieren und einer Palme aufleuchten, die verheißt – das Leben geht weiter in seinem schönen und vergänglichen Glanz. Inzwischen ist ein Gewitter aufgezogen, es donnert und blitzt, ein heftiger Regen geht nieder, Gelegenheit sich länger noch in die anderen Gemälde Carpaccios zu vertiefen, wohl die Vision des Hl. Augustinus und nicht Hieronymus in seinem Arbeitszimmer. Denn der Löwe fehlt in diesem Zimmer, das mit vielen liebevoll detailliert gemalten Gegenständen versehen ist, an seiner Stelle hockt ein Hündchen, das artig zum Heiligen blickt. Dieser sitzt an einem Tisch und schreibt einen Brief an den Heiligen Hieronymus, der ihm in Form eines Lichtstahls, so die amerikanische Kunsthistorikerin Roberts, erscheint. Ich will das gerne glauben, reiße mich aber schließlich doch los aus diesem Carpaccio-Schatz­kästlein, um mir noch in der Accademia seine berühmte Legende der heiligen Ursula anzuschauen.

Ein großer Raum, in dem die prächtig dekorativ gemalten Carpaccios zu sehen sind. Besonders berührt mich die kleine Szene im ersten Gemälde, in der der König die Bewerbung des fremden Prinzen um seine Tochter sorgenvoll zur Kenntnis nimmt. Das kann ich als Vater einer Tochter gut verstehen. Beindruckend die Tiefe der aufeinander folgenden Räume in der Szene, wo der Ehevertrag aufgesetzt wird. Souverän die Gestaltung der Massenszenen, auch des Massakers an Ursula und ihren Jungfrauen. Es ist ja wenigstens etwas, wenn die unglaubwürdige Grausamkeit der frommen Legende malerisch erträglich gemacht wird. Ursula ist auch die Stadtheilige des hilligen Köln, wo sie angeblich mit ihren 11000 Jungfrauen ermordet wurde, eine der schönen romanischen Kirchen Kölns ist ihr gewidmet. Ihre Ankunft in Köln enthält bei Carpaccio aber wenig erkennbares Stadtkolorit. In der Accademia ist so viel zu sehen, dass ich stellvertretend für die vielen Gemälde nur noch eines erwähnen will – der Tempelgang Mariens von Tizian. Denn in dem blaugewandeten kleinen Mädchen, das da auf den Stufen vor dem Hohenpriester steht, erkannte ich meine Enkelin Clara wieder. Und mit der „Flora“, Titelgemälde der Manuzio-Ausstellung, sah ich eine entzückende Bekannte (eben „Porträt einer Frau als Flora“ von Veneto) aus dem Städel-Museum in Frankfurt wieder. Auch in der Galleria Palazzo Cini konnte ich mit Mantegnas Markus einen bekannten Frankfurter begrüßen, im Austausch für das „Doppelbildnis der Freunde“ von Pontormo, das ich glücklicherweise schon in der Frankfurter Maniera-Ausstellung gesehen hatte. Dazu eine schlicht ergreifende Madonna mit Kind von Piero della Francesca, ein allegorisches Gemälde von Dossi, Botticellis Urteil des Paris uva. Schließlich noch das Peggy Guggenheim-Museum mit der klassischen Moderne und dem „Engel der Stadt“ von Marini mit dem erigierten Penis direkt am Canale Grande. „Ich suche allenthalben eine Stadt, die einen Engel an der Pforte hat“ (Lasker-Schüler).

Abschied

„Trinkt ihr Augen, was die Wimper hält, vom Überfluß Veneziens Bilderwelt.“ Danach bin ich verfahren. Die Rache folgte auf dem Fuße, und das wortwörtlich. Das Eilen von den Kirchen zum Museum, vom Museum zur Kirche, von dort in die Oper oder ins Kino, vom Restaurant zum Vaporetto hatte meinen linken Knick-Fuß überanstrengt. Nach vier Tagen fing die Sehne an zu schmerzen, die überanstrengte Tibialis posterior-Sehne. Kein helfender Engel, der mich trug, wie derjenige, der auf dem Deckengemälde Tiepolos einen vom Gerüst fallenden Bauarbeiter auffängt (in der Scuola dei Carmini), ein hübscher Beleg für das Eingreifen des Himmels in den Zeiten vor strengem Arbeitsschutz und Arbeiterunfallversicherung. Ich fuhr jetzt mehr mit dem Vaporetto, einmal mit der Linie 12 um Venedig herum, vorbei an den gewaltigen Kreuzfahrtschiffen, die anormal riesig aufragten und mit ihren tausenden von Passagieren die Stad überschwemmten.

Ein anderes Mal nach Murano, wo ich die romanische Kirche Santa Maria de Donati bestaunte, deren Chorfassade mit ihrer zweistöckigen Arkadenwand mit Doppelsäulen fast noch aufwendiger gebaut ist als die Kölner Drei-Konchen-Chöre. Drinnen der Mosaikfußboden belehrt die Täuflinge über die Gefahren, die dem Gläubigen in der Welt drohen – herrlich das Mosaikbild, auf dem zwei Hennen einen Fuchs, der sich totgestellt hat, an einer Stange tragen. Gleich werden sie wie der nicht aufmerksame Christ eine böse Überraschung erleben. Noch einmal nach Torcello, um die einsam wie ein verlassener antiker Tempel (Segesta!) daliegende byzantinische Basilika mit ihrem auferstehenden und richtenden Christus zu bewundern, einmal auf den Lido, Schwimmen in der Adria. Dort am Strand eine Szene, wie dem großen Gemälde Tizians von Kain und Abels Bruderzwist in der Accademia entsprungen – zwei nordafrikanische Handtuchverkäufer, die sich um ihre Reviere streiten, mit äußerster Schärfe redend und sich drohend aufstellend, Brust an Brust, Kopf an Kopf, man denkt, jetzt kommt es zum Kampf, doch nach 10 minütigem „Duell“, von den Strandwächtern nur halbherzig getrennt, lassen sie endlich voneinander. Es erinnert mich daran: auch im schönen Venedig ist die Welt mit ihren Konflikten nicht weit. Im Markusdom sorgt eine für eine Bombenattrappe gehaltene Tasche für Aufregung. Auf dem Markusplatz findet frühmorgens eine Militärparade mit Veteranen statt (die Marschmusik kommt aber enttäuschend genug aus Lautsprechern). Diebstähle werden gemeldet. Und wie wir aus Donna Leons Venedigkrimis wissen, gibt es auch in der heiter schönen, scheinbar aus der Welt gefallenen Stadt allerlei Verbrechen. Als ich in den Vaporetto zum Flughafen steige, fällt mir ein, dass ich (ein bekennender Radfahrer ohne Auto) jetzt wieder in die von Autos dominierte normale Industriegesellschaft zurückkehre. Wie war das schön ohne die Blechkarossen, nur die gelegentlich hupenden Transport-Boote, die Gondeln mit dem Geräusch von Ruderschlag, die friedliche Armada der Vaporettos mit ihrem Ritual des An-und Ablegens. Soll ich trotz der Fußschmerzen nicht doch bleiben? Noch zur Architektur-Biennale gehen? Nein, es ist entschieden, ich fliege vorzeitig zurück, es war auch so genug an Eindrücken und Schönheiten. Und so meldet sich schon beim Abheben des Flugzeugs die Sehnsucht nach der Stadt aus Erde, Wasser, Licht und Stein, von der es eigentlich unmöglich erscheint, dass sie überhaupt existiert.

O Venezia, Stadt der Träume, /Die du reich machst deine ärmsten Kinder/Mit der Weiße deiner Tauben /Und der Bläue deiner Himmel!/O Venezia, Stadt der Träume,/Die du stirbst und hast für deine Kinder/Und für all ihr goldnes Nichtstun/ Nur das Meersalz und die Feige! /O Venezia, Stadt der Träume/ Fremde eilen her und sehn dich sterben,/ Sehn die Tauben Sehn die Himmel/ Und wir, deine Kinder, erben. (B.Brecht, Gedichte 3,1001)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/hjb49.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2016