Der ganz normale Antijudaismus? Teil II

Wittenberg lernt nicht dazu

Andreas Mertin

Einmal angenommen – Beispiel I

Man stelle sich einmal vor, die Nationalsozialisten hätten an der Stadtkirche in Wittenberg, diesem Geburtsort der deutschen Reformation, durch einen Künstler eine riesige Skulptur mit einem Hakenkreuz angebracht, weil sie die Linie von Martin Luther zu Adolf Hitler hervorheben wollten. Nach 1945 wird das Hakenkreuz nicht entfernt, stattdessen stellt man eine Tafel auf, dass man sich entschieden von der nationalsozialistischen Ideologie distanziere. Und man ist ganz stolz auf diese Tafel. Und Sonntag für Sonntag gehen die Christen unter der Skulptur mit dem Hakenkreuz hindurch zum Gottesdienst. Angesprochen, ob man die skandalöse Skulptur nicht endlich entfernen könne, antwortet der bestallte Pfarrer: „Wieso wir diese Plastik nicht endlich abhaken, zu Staub zermalmen? Weil auch schwierige Geschichte erinnerungsbedürftig bleibt, weil das zur erschütternden Wirkungsgeschichte gehört.“ Und so bleibt die skandalöse Plastik Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt an der Kirche, bis sie in den Augen des Denkmalschutzes zum Denkmal geworden ist und unter Schutz gestellt wird und jeder der sie entfernen will, als Bilderstürmer bezeichnet wird.

Sie halten das für schwer vorstellbar? Ich auch. Man kann sich zwar denken, dass es tatsächlich eine Kirche in Deutschland gibt, die exemplarisch zum Mahnmal dafür wird, worauf sich der Protestantismus in Deutschland zwischen 1933 bis 1945 in schlimmster Verfehlung seines Auftrages eingelassen hat.

Aber man mag sich nicht ausmalen, dass eine Gemeinde Sonntag für Sonntag unter einem Symbol des Nationalsozialismus Gottesdienst feiert.


Einmal angenommen – Beispiel II

Nehmen wir also etwas anderes an. Man stelle sich einmal vor, Christen hätten im Mittelalter an der Stadtkirche in Wittenberg, diesem Geburtsort der deutschen Reformation, durch einen Künstler eine Skulptur mit einer Judensau angebracht, weil sie die Juden der damaligen Zeit und insbesondere ihren Glauben an zentraler Stelle zutiefst beleidigen wollten. Die Überschrift über der "Judensau" bedeutet: "So sieht der unaussprechliche heilige Name des Gottes der Rabbiner aus." Der Reformator Martin Luther bezieht sich in einer seiner späten antijudaistischen Hetzschriften auf diese Skulptur. Und die Nationalsozialisten berufen sich später genau auf diese Tradition der Herabsetzung und Beleidigung der Juden durch die Christen und auf Luthers antijudaistische Haltung und bringen in der Folge 6 Millionen Juden um.

Nach 1945 wird die Skulptur mit der Judensau nicht entfernt, stattdessen platziert man erst 1988(!) eine Bodenplatte mit dem Hinweis, dass in den sechs Millionen vernichteter Juden auch Gott sechs Millionen Mal starb:

UNTER EINEM KREUZZEICHEN
GOTTES EIGENTLICHER NAME
DEN DIE JUDEN VOR DEN CHRISTEN 
FAST UNSAGBAR HEILIG HIELTEN 
DER GESCHMÄHTE SCHEM HA MPHORAS
STARB IN SECHS MILLIONEN JUDEN.

Und man ist ganz stolz auf diese Platte. Und Sonntag für Sonntag gehen die Christen unter der Skulptur mit der Judensau hindurch zum Gottesdienst.

Angesprochen, ob man die skandalöse Skulptur nicht endlich entfernen könne, antwortet ein Pfarrer: „Wieso diese Schmähplastik, diese gräuliche Judenverspottung an der Stadtkirche Wittenberg, nicht endlich abhaken, zu Staub zermalmen? Nein. Weil auch schwierige Geschichte erinnerungsbedürftig bleibt, zumal Martin Luther (1483-1546) mit seinem antijüdischen Furor - zusammen mit den meisten seiner Zeitgenossen - zur erschütternden Wirkungsgeschichte gehört: Juden in Deutschland und Europa als stets Gejagte.“ Keinesfalls dürfe man die Skulptur entfernen und etwa im örtlichen Museum zur kritischen Erörterung platzieren, denn: „Geschichte lässt sich nicht einfach entsorgen. Sie gemahnt uns an Dunkles, auch bei dem großen Reformator Martin Luther und seinen Zeitgenossen.“ Und so bleibt die skandalöse Plastik Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt an der Kirche, weil sie längst zum „Denkmal“ geworden ist.

Sie halten das für schwer vorstellbar? Ich nicht. Es ist schlichtweg ganz normale antijudaistische Realität in Deutschland. Die Wittenberger Stadtkirche ist nicht das einzige Beispiel, in dem antijudaistische Plastiken und Gemälde weiterhin genutzt werden. Und immer meint man, die Einwände anderer, nicht zuletzt von Juden, mit einer Distanzierungstafel abweisen zu können. Während man die Spuren nationalsozialistischer Motive aus den Kirchen schnell entfernte, sah man sich nicht genötigt, denselben Klärungsprozess mit antijudaistischen Machwerken durchzuführen. Und hatte noch ein gutes volkspädagogisches Gewissen dabei.


Einmal angenommen – Beispiel III

Einmal eingenommen, ein jüdischer Besucher Wittenbergs würde nun (völlig zu Recht) empört sein über die fortdauernde Beleidigung jüdischen Glaubens an einer christlichen Stadtkirche und ganz konkret die Entfernung der Skulptur mit der Judensau fordern, genauer: ihre Überführung in ein Museum zur öffentlichen Diskussion des expliziten visuellen Antijudaismus. Was wäre wohl die öffentliche Reaktion? Wäre es 71 Jahre nach dem Ende des „Tausendjährigen Reiches“ mit seiner Vernichtungsgeschichte des Judentums in Europa möglich, dass eine führende Tagungszeitung in Deutschland, hinter der nach einer selbst kolportierten urban legend immer ein kluger Kopf steckt, in einem Artikel gegen diese „Tyrannei der Juden“ protestiert? Undenkbar? Nicht ganz. Natürlich würde man es niemals wagen, es exakt so zu formulieren. Aber sagen tun sie es trotzdem. Unter der Überschrift „Die Tyrannei der Beleidigten“(sic!) schreibt ein Kunsthistoriker über eine Petition eines jüdischen Bürgers auf Change.org, der die Entfernung der Skulptur von der Stadtkirche fordert. Er empfindet diese Forderung als Ausdruck der „Political Correctness“, ja, wie es die Textüberschrift klarstellt: als Tyrannei. Abgesehen davon, dass in Deutschland der Begriff der Political Correctness vor allem von der äußersten Rechten verwendet wird, um ungestört ihr rechtsextremistisches Gedankengut verbreiten zu können, abgesehen davon sollte man kurz einmal einhalten und nachdenken, was der Autor da eigentlich gerade geschrieben hat: Da ist ein 700 Jahre altes Objekt, das eine religiöse Gruppe in ziemlich heftiger und infamer Weise beleidigt. Ein Mitglied dieser Gruppe, die unter schrecklichen Verfolgungen im Gefolge derartiger Herabsetzungen im 20. Jahrhundert gelitten hat, protestiert gegen die fortdauernde Präsentation dieser Beleidigung in der deutschen Öffentlichkeit. Und der Autor bezeichnet das als Tyrannei der Beleidigten (= Juden). Ja, die Tyrannei der Juden in Deutschland. Kann man das anders als typisches antisemitisches Stereotyp nennen? Wer sich je mit dem Phänomen der so genannten „Judensau“ beschäftigt hat, weiß, dass mit dieser Skulptur ein zentraler Aspekt jüdischen Glaubens getroffen werden soll. Das ist die Intention des Werkes. Und das geschieht auch noch so, dass durch die Wahl der Darstellungsmittel (dem Schwein) eine besondere Infamie entsteht. Die Skulptur ist bösartig bis in jedes einzelne ikonographische Detail hinein. Beleidigt werden also die Juden und das Judentum. Es handelt sich nicht um eine Satire, nicht um eine Karikatur, nicht um eine Meinungsdarstellung. Es ist schlechthin antisemitische Hetze. Was kann dann die Rede von der „Tyrannei der Beleidigten“ meinen? Dass eine religiöse Gruppe in Deutschland die Beleidigung im Stil einer herabwürdigenden Skulptur, aufgrund derer sechs Millionen Menschen ermordet wurden, schlicht dulden muss? Und dass man den Protest gegen diese unsägliche Skulptur tatsächlich als „Tyrannei“ bezeichnen kann?

Der Teaser zu diesem Artikel lautet:

Im Namen politischer Korrektheit fordern Kritiker die Beseitigung irritierender Kunstwerke aus dem öffentlichen Raum. Was nicht in unser Weltbild passt, gilt zunehmend als unzumutbar, wie an einem Fall in Wittenberg zu sehen ist.

Ich weiß nicht, was sich jemand denkt, der solchen Müll schreibt. Ein Historiker kann es nicht sein. Wer ernsthaft meint, es sei „politische Korrektheit“, wenn antisemitische Machwerke aus der Öffentlichkeit entfernt werden sollen, der hat meiner Überzeugung nach den Common sense des gesellschaftlichen Diskurses verlassen. Auf der ideologischen Basis der Judensau von Wittenberg und vergleichbarer Machwerke sind sechs Millionen Juden vernichtet worden, und ein Autor in der FAZ protestiert dagegen, dass Werke, die diesen Vorgang mit begleitet und motiviert haben, entfernt werden sollen. Ich halte das für einen unerträglichen Skandal.

Im Folgenden verbindet der Autor nun die Forderung nach der Entfernung der Skulptur unter anderem mit den gewaltsamen Aktivitäten der Taliban gegenüber den Buddha-Statuen. In diesem Moment ist auch eine moralische Grenze überschritten. Wie kann man  Juden, die fordern, dass eine infame, sie herabsetzende Skulptur entfernt wird (der Autor benennt als Petitenten den „Londoner Theologen Richard Harvey“ und verschweigt, dass dieser Jude ist), ernsthaft mit jenen vergleichen, die völlig willkürlich die Skulptur einer fremden Religion zerstören, den Akt der Hetze also erst durch die Zerstörung vornehmen? Muss nicht wenigstens ein Mindestmaß an Scham bei einem FAZ-Autor vorausgesetzt werden, die ihn erkennen lässt, dass derartige Vergleiche buchstäblich unsäglich sind – und sachlich zudem vollständig unzutreffend sind?

Selbst wenn man unzutreffender Weise unterstellen würde, die Taliban fühlten sich durch die Buddhastatuen in ihrer Religion beeinträchtigt (was nicht stimmt, was jeder weiß, der das Video von der der Sprengung vorausgehenden Diskussionen auf Youtube gesehen hat; sie argumentieren mit der absehbaren weltweilten Wirkung der Sprengung), so gibt es keine Verbindung mit der herabsetzenden Darstellung der Judensau. Wie kann ein Kunsthistoriker daher die antisemitischen Skulpturen, die unter dem Namen „Judensau“ subsumiert werden, mit den Buddhastatuen, die zur Verehrung Buddhas erstellt wurden, auf eine Stufe stellen? Ist die Vergleichsebene wirklich: das sind alles Artefakte? Egal ob Jud Süß oder Goethes Faust, egal ob religiöses Kultobjekt oder antireligiöses Hassobjekt? Ist das so? Hauptsache es sind irgendwie Kunstwerke? Müssen wir uns also schämen, dass die ganzen skulpturalen ‚Kunstwerke‘ mit Adolf Hitler nach 1945 aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden? Schließlich war das doch auch: Kunst? Sind wir der Tyrannei der Antifaschisten erlegen?

Zunächst einmal sollte man festhalten, dass Kunst keinesfalls alles machen kann, nur weil es Kunst ist. Das ist erkennbar Quatsch. Die berühmte Freiheit der Kunst meint gerade nicht, dass die Inhalte der Kunst nicht auch strafbar sein können.

Dass "Kunst alles darf" oder "Satire alles darf", ist Unsinn. Es wird behauptet von Anhängern eines "qualitativen" Kunstbegriffs, der zwischen "guter" und "schlechter" Kunst unterscheidet. Genau das ist aber, was Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz ausschließen will. Es geht nicht um gute oder schlechte Kunst, gute oder verbotene Satire. Das mag zwar noch "herrschende Meinung" sein bei den Freunden und Konsumenten der "guten" Kunst. Aber es entspricht nicht der Erkenntnislage des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs. ... Heute ... meinen wir (und weiß die Strafrechtswissenschaft): Kunst und Strafbarkeit, Satire und Strafbarkeit schließen einander nicht aus. Vielmehr sind sie Begriffe auf unterschiedlichen Bedeutungs- und Wertungsebenen. Auch strafbare Pornografie kann Kunst sein. Und Kunst kann strafbar sein. Die "Freiheit" der Kunst besteht nicht in ihrer inhaltlichen Unbeschränktheit, sondern im immanenten Begriff ihrer selbst. Was Kunst ist, bestimmt nicht das Strafrecht, sondern allein die Kunst. Wenn das (Straf-) Recht etwas als "verboten" ansehen möchte, muss es die Verantwortung dafür schon selbst übernehmen und nicht der "schlechten" Kunst in die Schuhe schieben.

So schreibt es Thomas Fischer in seiner Rechtskolumne auf ZEIT Online. Mit anderen Worten: der Tatbestand, dass etwas Kunst ist, befreit nicht von der Verantwortung, sich auch auf anderen Urteilsebenen damit auseinanderzusetzen. Ein Kunstwerk kann durchaus schlechte Theologie sein, kann strafbar sein oder gesellschaftlich nicht erwünscht. Es kann verboten werden, wenn es bestimmte juristische Grenzen überschreitet, es kann ins Museum verbannt werden, um es einem fachlichen Diskurs zuzuführen. Ja, sie kann sogar vom Eigentümer zerstört (aber nicht verändert) werden. All das ist mit Kunst möglich.

Wer die kritische Diskussion über historische Artefakte zur Tyrannei (der Werte im Sinne von Carl Schmitt vermute ich einmal) erklärt, erklärt sie zugleich für sakrosankt. Und so schleicht sich die Wertfrage durch die Hintertür wieder ein. Nun kann man sich fragen ob dies zufällig in Ostdeutschland geschieht – der ungläubigsten Region der Welt, wie Alan Posener einmal geschrieben hat. Dem FAZ-Autor ist ja die Religion – die jüdische wie die protestantische – offenkundig herzlich egal. Ihn interessiert es nicht, dass mit der Nennung des Namens als Eigenname Gottes die jüdische Religion fortdauernd provoziert wird. Und es interessiert ihn nicht, dass seit 70 Jahren die herabsetzende Theologie gegenüber den Juden nicht mehr zu den Charakteristika protestantischen Denkens gehört. Er begreift Kirchengebäude als Freilichtmuseen, die dann freilich auch Einblick geben sollten in ihre Geschichte. Seine Antwort an den jüdischen Kritiker Richard Harvey, der die Überführung der Skulptur in ein Museum fordert, lautet eigentlich: Was willst du denn, die Skulptur ist doch schon an/in einem Museum! Und daran ist ausnahmsweise – bei aller sonstigen fehlgeleiteten Argumentation – ein Funke Wahrheit. Die lutherische Kirche behandelt tatsächlich ihre Kirchen schon seit längerem nicht mehr als Gebäude, in denen Christen zusammenkommen sollen, um zu beten, die Predigt zu hören und die Sakramente zu empfangen, wie es Luther in der Kirchenpostille 1522 schreibt. Tatsächlich behandelt die lutherische Kirche ihre Gebäude inzwischen oftmals als Museen des Glaubens, in denen dieser mehr ausgestellt als gelebt wird. Wenn er aber dort gelebt wird und, wie es lutherischem Verständnis entspricht, in den Kunstwerken der Glaube auch zum Ausdruck kommt (wenigstens darauf hat Luther bestanden), wie können die Lutheraner dann mit der inkriminierten Skulptur leben? Das geht nur, wenn auch sie die Kirche als Museum begreifen.


Einmal angenommen – Beispiel IV

Einmal angenommen, die FAZ würde ihr Forum auch für den gerade beschriebenen Artikel öffnen, glauben Sie, dass es möglich ist, dass dort Diskussionsteilnehmer die „Judensau“ ganz bewusst in ihrer herabsetzenden Form als „Meinungsfreiheit“ verteidigen und die Forderung nach deren Entfernung als Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit beurteilen? Ja, auch das ist in Deutschland inzwischen wieder möglich.

Bilderstürmerei ante portas, wie sie selbst bei Ulbricht so radikal nicht stattfand. Meinungsfreiheit, ohne Wert und längst nicht mehr wirklich gegeben, die "Blockwarte der Politival Correctness", wie es treffend ein Kommentator ... formulierte, sind wieder obenauf, überall vermintes Meinungsterrain, ob zu Flüchtlingskrise, Russland, Energiewende-Desaster, Klimawandeldogmen, die um so schärfer gelten, je mehr sie der Wirklichkeit oder der Physik und Technik widersprechen usw. Wenn Darstellungen aus weit zurückliegenden Jahrhunderten von bilderstürmerischen Gutmenschen heute beseitigt werden, dann weiss man wenigstens in was für einer Epoche der Geschichts- und Kulturlosigkeit wir leben müssen und wer hier herrscht. ...

Kulturlos ist demnach, wer antisemitische Artefakte dem kritischen Diskurs überantworten will. Man darf heute doch tatsächlich, so meinen einige, nicht mehr seinen antisemitischen Meinungen nachgehen. Daran könne man erkennen, „wer hier herrscht“. Auch das ist eine Formulierung aus dem Floskel-Arsenal des Antisemitismus.

Letztlich sind für manchen Foristen dann nicht die Juden die eigentlich Verfolgten, sondern die Nazis. Juden mutieren mit ihrem Begehren, die Skulptur zu entfernen, zu religiösen Fanatikern, und das in der Judensau Ausgedrückte zur verteidigenswerten Gedankenwelt:

Völlig unerwünscht wie respektlos sind derlei im Artikel aufgeführte Vorstöße, seinen Mitmenschen das Denken zu lehren und diese dem eigenen Weltbild zu unterwerfen. Natürlich ähnelt die selbsterklärte "Avantgarde der Weltoffenheit" religiösen Fanatikern, da beide das Existenzrecht anderer Gedankenwelten negieren und zumindest die Ansichten, schlimmstenfalls die anders denkende Person selber, als minderwertig betrachten. Die logische Konsequenz ist dann die Beseitigung des als unerwünscht betrachteten Gedankenguts, in welcher Form auch immer. Für jeden selbständig denkenden Menschen ein Gräuel. Danke für den hervorragenden Artikel.

Ja, der Mann hat Recht. Und dies gehört zu Recht zur Staatsprogrammatik der Bundesrepublik Deutschland, zur Staatsräson wie die Kanzlerin in Israel betont hat, nämlich, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, dass ein Gedankengut, dass Juden als minderwertig und nicht als gleichberechtigt ansieht, in Deutschland auf Dauer ausgegrenzt wird. Dieses Gedankengut ist unerwünscht! Und es ist keinesfalls selbständiges Denken, wenn man die Herabsetzung von Juden für ein zu verteidigendes Weltbild hält. Es ist brauner Müll.

Es ist ganz interessant, was in den Weltbildern der hier sich Äußernden alles auftaucht und was nicht. Schauen wir uns einmal das folgende Statement an:

Jawohl politische Korrektheit ist alles andere als korrekt. Sie ist ein Versuch Denkverbote zu errichten und Erwünschte Meinungen zu verordnen. Das klingt ganz nach Diktatur und Intoleranz. Politische Korrektheit besagt, dass die s eine richtige Meinung gibt und keine daneben. Das hatten wir alles schon mal im Mittelalter unter der Kirche und noch zu unseren Lebzeiten mit dem Marxismus/Kommunismus. Meinungsfreiheit bedeutet halt, dass jemand beleidigt seien kann und es aszuhalten hat. Genauso muss jemand mit einer der Allgemeinheit abweichender Meinung Hohn und Spott ertragen können. In einer freien Gesellschaft ist es gegeben die notwendige Stärke zu zeigen um die eigenen Überzeugungen zu vertreten. Man kann nicht jedes Sensibelchen verschonen. Eine politische Korrektheit, die als Denkersatz dient fördert weder die Freiheit, noch eine nachdenkliche Auseinandersetzung mit Welt.

Ja, zu den schrecklichen Dingen auf dieser Welt gehören natürlich die Kirche im Mittelalter und der Marxismus in Deutschland. War da nicht noch irgendetwas zwischen 1933 und 1945? Ein totalitäres System mit Unterdrückung und Verfolgung und einem „totalen Krieg“ mit 60 bis 70 Millionen Toten? Nicht erwähnenswert. Ja, das passt nicht ganz ins braune Weltbild.

Natürlich sind es ungebildete rechte Idioten, die hier argumentieren. Die, ohne auch nur eine Zehntelsekunde nachzudenken, ein Kunstwerk des Jahres 1300 bzw. 1440 als typisch protestantisch bezeichnen. Die, ohne über diejenigen, die die Entfernung der Judensau fordern, auch nur ansatzweise nachzudenken, schreiben Man kann nicht jedes Sensibelchen verschonen. Und die dies im Angesicht der Judenvernichtung in Deutschland tun. Das sind Idioten. Würde man dies nicht als schier unerträgliche Dummheit begreifen, müsste man von einem virulenten und nicht nur latenten Antisemitismus in Deutschland ausgehen. Ich weiß wirklich nicht, was im Hirn eines Menschen vorgeht, der 2016 in einem Leserkommentar der FAZ schreibt, Juden müssten in Deutschland doch „Hohn und Spott ertragen können“. Er kann sich ja nicht darauf berufen, dass er nicht weiß, was über Jahrhunderte den Juden in Deutschland und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angetan worden ist. Und er kann sich nicht darauf berufen, dass er nicht weiß, dass die Nationalsozialisten immer von der „Judensau“ gesprochen haben. Aber vermutlich hält er auch das noch von der Meinungsfreiheit gedeckt. „Meinungsfreiheit bedeutet halt, dass jemand beleidigt seien kann und es aszuhalten hat“. Nein, das bedeutet es gerade nicht. Denn die Rechtslage ist eine andere. Wer Ausdrücke wie „Judensau“ oder „Saujude“ heute gegenüber Menschen benutzt oder öffentlich über sie äußert, macht sich in Deutschland (§ 185 Strafgesetzbuch), Österreich (§ 115 österreichisches Strafgesetzbuch) und der Schweiz (Rassismus-Strafnorm, §261bis StGB) wegen Beleidigung strafbar. In besonders schweren Fällen kommt in Deutschland auch eine Strafe wegen Volksverhetzung (§ 130) in Betracht. Das ist geltende Rechtslage. Manche in Deutschland empfinden das inzwischen wieder als Zensur und Meinungsdiktatur. Aber es ist simples Recht.

Es gehört freilich zu den Ironien der Rechtsgeschichte, dass ich verurteilt werde, wenn ich jemandem die entsprechenden Begriffe ins Gesicht sage, nicht aber, wenn ich analoge Bilder vor sein Gesicht halte. In anderen Punkten (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) ist der Staat da konsequenter.

Die evangelische Kirche sollte aber überlegen, ob sie nicht die Konsequenzen aus all dem zieht. Im Lutherhaus in Wittenberg ist ganz sicher noch etwas Platz für die Skulptur von der Stadtkirche. Dort kann dann – zusammen mit der sich darauf beziehenden Schrift Martin Luthers - erläutert werden, welches unsägliche, gemeinchristliche Denken hinter den Entwürfen zu dieser Skulptur steckt, auch, warum so etwas niemals „Kunst“ genannt zu werden verdient und inwieweit der Protestantismus in Deutschland sich davon nach 1945 davon distanziert hat. Und was er daraus gelernt hat. Oder eben auch nicht.

P.S.: Der Verfasser gehört zu den Unterzeichnern der Petition auf Change.org.



Immer wenn man meint ...

... es könne nicht noch schlimmer kommen, dann muss man nur die Leserkommentare bei idea lesen. Idea berichtet von der Diskussion um die so genannte Judensau und befragt im Pro- und Kontra-Stil zwei „Experten“. Und dann äußern sich die Frommen im Geiste:

Ich bin gegen die Entfernung, aber aus anderen als den genannten Gründen. Denn ich sehe in der Darstellung KEINE KOLLEKTIVE AUSSAGE. Und nur, weil sich jemand hinstellt und behauptet, dass das Relief eine kollektive Aussage träfe, macht daraus noch keine kollektive Aussage. Im übrigen nervt mich die ... Suche nach Antisemitismen. Wo bitte schön ist dem Relief die Aussage zu entnehmen, dass alle (!) Juden Säue seien? Nirgendwo! Das wird hier nur behauptet. Und noch eine Anmerkung zu Wieland Schmiedels Bodenrelief zum Holocaust: Was hat der Holocaust mit dem Stein-Relief zu tun?

Da passt es dann, dass ein anderer darauf hinweist, dass andere ja noch viel schlimmer seien. Wen er meint? Die Juden und die Muslime natürlich und fordert:

... ich will darauf hinweisen, dass sowohl der Babylonische Talmud als auch der Koran mit seinen gegen Christen gerichteten Aufrufen aus dem Verkehr gezogen werden sollte. Der Koran bezeichnet Juden und Christen sogar als Affen und Schweine. ... Als jüdische Antwort auf das frühe Christentum ist die sog. Birkath ha-Minim in Betracht zu ziehen. Der Text lautet nach dem babylonischen Talmud: „Den Verleumdern aber sei keine Hoffnung, und alle, die ruchlos handeln, mögen im Nu zugrunde gehen, bald mögen sie alle ausgerottet werden. Die Frechen entwurzele bald, und zerschmettere, stürze und demütige sie bald in unseren Tagen. Gelobt seist du, Herr, der die Feinde zerschmettert und die Frechen demütigt.“

Dass Birkat haMinim sich vor allem auf Judenchristen bezieht, ist nicht ohne Ironie in dieser verrückten Welt, in der Fromme es einen Skandal finden, dass Christen als Schweine bezeichnet werden, nicht aber, wenn sich das auf Juden bezieht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/am558.htm
© Andreas Mertin, 2016