Der Codex Gisle

Ein Kirchenmusik-Faksimile

Andreas Mertin

Der Codex Gisle. Ma 101, Bistumsarchiv, Osnabrück; Kommentar zur Faksimile-Edition (2015). Unter Mitarbeit von Beate Braun-Niehr, Walter Wolter-von-dem-Knesebeck und Hermann Queckenstedt. Luzern: Quaternio-Verlag.

Ich erinnere mich gut daran, wie ich vor einigen Jahren zum ersten Mal ein legendäres Faksimilebuch durchblättern konnte. Es war im Kloster Frenswegen und es handelte sich um das Faksimile des Evangeliars Heinrich des Löwen. Auch wenn es sich nicht um das Original handelte, so musste man sich doch vor dem Blättern dünne Stoffhandschuhe anzie­hen, um das Faksimile nicht mit seinen Fingerabdrücken zu beschädigen. Es war überaus beeindruckend, in dieser „Kopie“ zu stöbern. Und ich beneidete die Leute, die sich derartige hochwertige Faksimiles leisten können. Sicher, man kann heute ohne Probleme in einem Digitalisat des Evangeliars blättern, aber dem Original kommt ein Faksimile immer noch am nächsten. Und gerade wenn das Original unendlich kostbar ist (das Evangeliar Heinrich des Löwen wird, um es zu schonen, nur alle zwei Jahre ausgestellt), sind Faksimiles eine gute Möglichkeit, einen nahezu authentischen Eindruck vom Original zu erlangen. Und darüber hinaus machen Faksimiles etwas einer größeren Allgemeinheit zugänglich, was bis dato ein Privileg einer ganz kleinen Gruppe und zudem gebunden an einen einzigen Ort war.


Faksimile – Oder: Museo dei Musei

1988 war ich in Florenz im Palazzo Strozzi in einer Ausstellung, die der Bedeutung von Kopien für die Wahrnehmung der Bildenden Künste nachging.[1] Dort waren einhundert der wichtigsten Werke der Kunstgeschichte von den ambitioniertesten Kopisten der Welt „faksimiliert“ worden. Das heißt, es waren nicht wirklich 100 Kopien, sondern es waren auch Originale in der Ausstellung und von den Künstlern in früheren Zeiten selbst gefertigte Kopien ihrer Werke. Man ging also durch die verschiedenen Räume der Ausstellung und fragte sich, ob man wohl den „Originalen“ auf die Spur kommen würde, ob man also gerade vor einem echten Werk stand oder vor einer Kopie. Und da, wie es heute auch bei den Buch-Faksimiles üblich ist, sehr viel Wert auf die rahmende Ausstattung gelegt wurde, konnte man die Frage der Authentizität auch nicht anhand des Rahmens entscheiden. Das war eine Herausforderung für die Wahrnehmung und die Sinne. Sicher, Leonardos legendäres Abendmahl aus Mailand konnte nicht in den Palazzo Strozzi gebracht worden sein, aber was war mit Michelangelos Tondo Doni, das sonst doch nur 500 Meter Luftlinie entfernt in den Uffizien hing? Würde es einen Unterschied machen, wenn man auf das Original oder eine ununterscheidbare Kopie schaute? (Außer dieser quälenden Frage im Kopf natürlich – Ist es das Original oder ist es die Kopie?) Wenn es sich im Palazzo Strozzi um eine Kopie handelte, hätte ich am gleichen Tag noch in die Uffizien gehen können, um möglichen Wahrnehmungsdifferenzen nachzugehen. Aber vielleicht war ja auch eine Kopie als Ersatz in den Uffizien und das Original im Palazzo Strozzi?

Zum Katalog der damaligen Ausstellung steuerte Umberto Eco einen wunderbaren Text bei, der unter der Überschrift „Del falso e dell'autentico“[2] höchst subtil den verschiedenen Varianten von Nachahmung, Kopie, Fälschung etc. nachging. [Eine erweiterte Version des Textes findet sich in Ecos Buch „Die Grenzen der Interpretation“.[3]] Was wäre, so könnte man fragen, wenn man statt Originale weltweit immer wieder unter ihnen abträglichen Umständen von Ausstellung zu Ausstellung zu schicken, ununterscheidbare Kopien anfertigen und diese als Stellvertreter versenden würde? Was, wenn eine Ausstellung mit den besten Werken der Kunstgeschichte aus ununterscheidbaren Kopien zusammengestellt würde und auf Tour ging? Wäre das nicht ein Beitrag zur ästhetischen Bildung der Menschen (Friedrich Schiller) im Zeitalter der nahezu vollkommenen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke (Walter Benjamin)? Oder wäre der Kult der Aura immer noch so wichtig, dass wir lieber auf die Betrachtung von Kopien verzichten würden, weil sie eben nicht „Original“ sind? Und gälte das gleiche nicht auch von den unersetzlichen Inkunablen, die in Klöstern und Archiven schlummern? Aber wäre es nicht überaus sinnvoll, es gäbe nicht nur die Originale, sondern auch Kopien, die nahezu ununterscheidbar wären und in denen wir blättern könnten? Damit sind wir bei der Kultur der Faksimiles.


Die Kultur der Faksimiles

Und bei den umsichtig hergestellten Faksimiles handelt es sich tatsächlich um eine Kultur, um eine Pflege der Überlieferung und um einen Versuch, so etwas wie authentische Erfahrungen zu generieren. Man kann das leicht selbst einsehen. Wenn man etwa in einem Kunstband auf ein Blatt aus einem mittelalterlichen Codex stößt, dann kann man es studieren, kann den ikonographischen Details nachgehen, kann dem Aufbau des Blattes, also seiner kunstvollen Kom­position nachspüren. Das ist ikonologisch überaus faszinierend und inspirierend. Aber man bleibt im Bereich der Text-Bild-Abbild-Struktur. Man kann etwa das zugrunde liegende Lied identifizieren, die dargestellte biblische Geschichte (bzw. die religiöse Lehre), oder auch die rahmenden Figuren des Blattes. Was man aber nicht kann und was der Erfahrung fehlt, wird deutlich, sobald man das Blatt leicht anhebt und es ins Licht hält. Beim bloßen Kunstdruck bleibt es eine plane Fläche, eine Fläche, die keine wirkliche Tiefenstruktur und keine wirkliche Form der Sinnlichkeit entwickelt. So gesehen ist das ein mehr als unvollkommenes Abbild eines Vorbildes. Kunstbücher kupieren die Bilderfahrung um einen ganz bestimmten nahezu haptischen visuellen Effekt.

Hat man aber ein Faksimile vor sich, scheint auf den ersten, oberflächlichen Blick zunächst alles gleich zu sein. Sobald man aber Licht (oder die Sonne) über das Blatt strahlen lässt, zeigt sich der Unterschied. Dort, wo etwa Gold aufgetragen wurde, ergeben sich nun Erhebungen oder Vertiefungen des Blattes, entsteht eine Struktur, die die Wahrnehmungen des ganzen Blattes verändern. Das Blatt wird lebendig, es beginnt sozusagen zu sprechen. Und dieser Vitalisierungseffekt bezieht sich keinesfalls nur auf das Gold (das wäre nur ein begrenztes, sozusagen byzantinisches Erbe), sondern er zeigt sich bei nahezu allen Farben des jeweiligen Bild-Blattes. Und diesen Vorgang, diese Erfahrung kann man nicht digital reproduzieren. Er ist auf die Erfahrung des Originals bzw. eines gut gemachten Faksimiles angewiesen. Wenn man also die konkrete Verwendung bestimmter Farben und Materialien bei der Erstellung des Codex nicht für zweitrangig oder bloß symbolisch hält (die Farbe Blau steht für ...), dann ist man auf den Kontakt mit dem Werk (oder einem Werksurrogat) verwiesen. Davon kann im vorliegenden Fall nur erzählt werden, weil keine Abbildung die Erfahrung ersetzen kann:


Geburt Christi – Introitus zur dritten Weihnachtsmesse an Heiligabend (ca. 26x36 cm)

Zur Kultur der Wahrnehmung eines derartigen Gra­duale gehört natürlich auch die Wahrnehmung der Musik, der das Graduale dienen soll. Vielleicht wollen Sie erst einmal in die Musik des Blattes hineinhören, damit Sie das Ganze besser imaginieren können? Das Bistum Hildesheim hat zur seinerzeitigen ersten Ausstellung des Codex Gisle ein Video auf Youtube gestellt, in dem das Lied aus dem gerade betrachteten Blatt gesungen wird:

https://www.youtube.com/watch?v=i8wYoSsh294


Das Faksimile des Codex Gisle

Vor mir liegen nun einige Blätter eines solchen Faksimiles, prachtvolle Blätter aus dem so genannten Codex Gisle, einem Graduale aus der Zeit um 1300. Der Codex Gisle, so schreibt der Quaternio-Verlag, ist ein wahres Meisterwerk der deutschen Gotik, der im Bistumsarchiv von Osnabrück aufbewahrt wird. Unangefochten überstrahle es die gesamte norddeutsche Handschriftenproduktion des 14. Jahrhunderts.

Der Codex Gisle ist etwas Besonderes unter den Codizes. Nicht nur weil er ein Graduale, also ein Musik-Codex ist, sondern auch, weil er eindeutig einer Frau zugeordnet werden kann. Denn handschriftlich ist auf dem ersten Blatt des Graduale notiert:

„Die ehrwürdige und fromme Jungfrau Gysela de Kerzenbroeck hat dieses wunderbare Buch geschrieben, illuminiert, mit Noten versehen, paginiert und mit goldenen Buchstaben und wunderschönen Bildern zu ihrem Gedächtnis dekoriert ...“

Dabei muss man die Gerühmte nicht wirklich als Handwerkerin des Graduale begreifen, nicht als eine Künstlerin, wie man es manchmal beschrieben findet, sondern als Auftraggeberin, Begleiterin des Herstellungsprozesses und Nutzerin des Codes wie Beate Braun-Niehr betont:

„Ihr im Memorialeintrag auf der Rectoseite des ersten Blattes des Codex Gisle detailreich gewürdigter Anteil an der Herstellung der Handschrift ist vor dem Hintergrund dieser Fakten nicht als fecit (»hat gemacht«), sondern im Sinn eines feri fecit (»hat machen lassen«) zu verstehen ...
   Gisela wird zum einen die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt haben, zum anderen dürfe sie für die Beschaffung der Vorlage gesorgt, die Entscheidung über die mit den Weihnachts- und Osterteilen zu betrauende, professionelle Buchmalerwerkstatt getroffen, das eigene Skriptorium für die übrigen Teile instruiert und wahrscheinlich auch bei der Konzeption des Bildprogramms mitgewirkt haben. Vielleicht hat sie sogar die Anfänge des Herstellungsprozesses, der sich gewiss über eine längere Zeitspanne hinzog, noch selbst überwachen können.“[4]

Zugänglich ist dieser Codex nun durch eine kostbare Faksimile-Edition, die der Luzerner Quaternio-Verlag zusammen mit dem Bistum Osnabrück ermöglicht hat. Der Verlag schreibt zu diesem Unternehmen:

Im Bistumsarchiv Osnabrück hat der Quaternio Verlag Luzern ein ungewöhnlich prachtvolles Graduale entdeckt, das die Zisterzienserin Gisela von Kerssenbrock um 1300 geschrieben, illuminiert und ihrem eigenen Konvent Marienbrunn in Rulle bei Osnabrück gestiftet hat. Nach ihr trägt die Prachthandschrift den Namen »Codex Gisle«. Das Graduale verzeichnet die Gesänge der täglich gefeierten Messe.
     Die außerordentliche Qualität dieser Bilderhandschrift beruht gleichermaßen auf dem Reichtum der Ausstattung und der Eleganz der zu wahren Miniaturen ausgeschmückten Initialen. Großzügig ist strahlend poliertes Gold als Hintergrund von Initialen und Medaillons und als Auszeichnungsschrift verwendet worden. Die hohe Anzahl von 53 historisierten Initialen ist wohl einzigartig für ein gotisches Graduale. Auf 172 Blatt im Format von 35,5 × 26 cm verteilen sich die Illustrationen zum Weihnachts- und Osterfestkreis.

Bevor ich auf die Edition des Quaternio-Verlages weiter eingehe, zunächst noch ein Blick auf das oben abgebildete Blatt. Wir blicken auf den kunstvoll verzierten Introitus Puer natus est:

Puer natus est nobis
et filius datus est nobis
cuius imperium super humerum eius
et vocabitur nomen eius
magni consilii angelus.

Im großen Initiale P des Puer ist die Geburtsszene Jesu Christi abgebildet und darunter sehen wir sechs Nonnen, von denen eine das Graduale in der Hand hält. Über ihrem Kopf ist sie als Einzige der Gruppe mit Namen eindeutig bezeichnet: Gisle (und gemeint ist damit die Zisterzienserin Gisela von Kerssenbrock).

Was ist das für eine Kultur, die sich hier spiegelt? Zunächst einmal ist es die Epochenschwelle der Zeit um 1300. In Südeuropa entsteht bei Cimabue und seinem Schüler Giotto zum ersten Mal so etwas wie (selbstbewusste) Kunst.[5] Im Bereich der Buchillustrationen wird es noch 100 Jahre dauern, bis die einzelnen Illustratoren namentlich bekannt werden (etwa um 1400 mit den Brüdern von Limburg). Um 1300 sind Buchillustratoren dagegen noch keine Künstlersubjekte im modernen Sinn, sondern mehr oder weniger gute „Handwerker“, die in Werkstätten arbeiten. Aber auch damals wird es berühmte Werkstätten gegeben haben und weniger berühmte. Die in diesen Werkstätten entstehenden Bilder sind – allein schon aus ökonomischen Gründen – keine Kunst für das Volk (auch wenn es die Idee dazu schon seit beinahe dreihundert Jahren gibt – man denke nur an die 1015 entstandene Bernwardstür in Hildesheim, die sich explizit an das Volk wendet). Aber beim Codex Gisle sind und bleiben wir im engeren Bereich des Klosters, der die Laien so gut wie möglich draußen hält.

Und die konkrete Szene, auf die wir blicken, entspricht in etwa der Anwendungssituation eines damaligen Graduale, denn wir sehen mehrere Zisterzienserinnen gleichzeitig aus einem Graduale singen, d.h. die Noten ablesen. Derartige Codices waren auch damals viel zu kostbar, um jedem Chormitglied ein eigenes Buch zur Verfügung stellen zu können. Sie sind großformatig, damit auch die SängerInnen in der vierten Reihe noch den Text und die Noten ablesen können. Und die Tatsache, dass dieses Graduale fast 500 Jahre in Gebrauch war zeigt, wie einzigartig und unersetzbar es über die ganze Zeit gewesen ist.

Das Faksimile, das der Quaternio-Verlag in Luzern nun vorgelegt hat, ist eine originalgetreue, aufwändige Reproduktion des Originals. Also nicht einfach ein Reprint (wie man ihn inzwischen beim Stundenbuch der Herzöge von Berry massenweise findet), sondern eine Kopie im oben von Umberto Eco beschriebenen Sinn. Das ist, wenn man ein derartiges Faksimile in Händen hält, wie eingangs erwähnt, überaus beeindruckend. Und wenn man dann über die einzelnen Blätter blickt, funkelt und glänzt tatsächlich das aufgebrachte Gold, und sobald man die Seiten umblättert, dann ist das, als wenn man im Original blättert. Was für die einzelnen Seiten gilt, gilt natürlich auch für Einband und den gesamten haptischen Eindruck.

Es ist ein Stück mittelalterlicher Kultur, die uns hier vor Augen tritt und damit sinnenfällig wird. Und anders als die unersetzbaren Inkunabeln mittelalterlicher Kultur kann dieses Werk in begrenztem Umfang allgemein zugänglich sein und durchblättert werden. Das ist ein unschätzbarer Vorteil der verdienstvollen Arbeit der Faksimile-Verlage. Ein Werk, das sonst unnahbar in Tresoren verschlossen oder doch in Glasvitrinen auf Distanz gehalten wird, kommt uns auf diese Weise nahe.


Der Kommentarband

Der das Faksimile begleitende Kommentarband führt umfassend in die Edition, aber auch den Hintergrund des Codex Gisle ein. Im Blick auf die sinnliche Erfahrung des Codices ist ein Kommentarband vielleicht entbehrlich, im Blick auf das Verstehen und die ästhetische (= sinnlich-reflexive) Erschließung ist er aber unentbehrlich. Die mittelalterliche Welt der Klöstergesänge ist von einer säkularisierten, post-modernen Gesellschaft inzwischen so weit entfernt, dass es einer gewissenhaften fachlichen Vermittlung bedarf, wenn man nicht im Pittoresken stecken bleiben will. Am Kommentarband zum Codex Gisle sind vier AutorInnen, zum Teil mit mehreren Texten beteiligt:

Zunächst beschreibt Beate Braun-Niehr wie der Codex als Graduale für das Zisterzienserinnenkloster Rulle bei Osnabrück in Funktion war, was überhaupt die „liturgischen Rollenbücher für die Messfeier“ sind und wie sich eine Messfeier aufbaut. Das wird dann am Beispiel des Codex Gisle durch das Kirchenjahr hindurch konkretisiert. Danach erörtert Braun-Niehr die mögliche Entstehungszeit des Codex rund um das Jahr 1300.

Eher an Spezialisten wendet sich der zweite Text von Beate Braun-Niehr mit Beobachtungen zur äußeren Gestalt des Codex Gisle, zu seiner Entstehung und seiner Geschichte sowie zum heutigen Einband der Handschrift. „Aus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schließen, dass an der Herstellung des Codex Gisle bald nach 1302 zwei Skriptorien beteiligt gewesen sein müssen, die in äußerst enger Abstimmung zusammengearbeitet haben.“ (28)

Der dritte Text von Beate Braun-Niehr gibt dann zur besseren Orientierung eine Übersicht über den Inhalt des Codex Gisle.

Harald Wolter-von dem Knesebeck leistet in seinem ersten Text eine grundlegende kunsthistorische Beschreibung und Betrachtung des Codex Gisle.[6] Das heißt er stellt die konkrete Bildausstattung vor und ordnet sie in die Buchkunst ihrer Zeit ein. Zu Beginn stellt er die Forschungslage vor, die im Laufe der Zeit zu ganz unterschiedlichen Einordnungen des Codex Gisle geführt hat und dann geht er Schritt für Schritt auf die einzelnen Initialbilder ein.

Der zweite Text von Harald Wolter-von dem Knesebeck geht der Entstehung und der kunsthistorischen Einordnung des Codex Gisle in einer zusammenfassenden Perspektive nach. Ich empfehle denen, die sich mit dem Codex Gisle näher beschäftigen wollen, mit diesem Text einzusteigen, weil er noch einmal die verschiedenen Argumente zum Codex vorstellt, gewichtet und eine aktuelle Sicht vorträgt. Das ist für das Verstehen der Bedeutung (und der Deutung) des Codex sehr hilfreich. Wolter-von dem Knesebeck kommt zum Schluss:

Neben dem vermutlich herausragenden Part, den Gisle als cantrix von Rulle bei der Planung und Herstellung dieser ungewöhnlichen Prachthandschrift einnahm, zeigen die erkennbar werdenden Umrisse einer enge Kooperation zwischen professioneller Werkstatt und Ruller Konvent, welch hohen Anteil Frauen an einem solch qualitativ herausragenden Werk der Buchkunst und Buchkultur in der Zeit um 1300 nehmen konnten – auch wenn man den Nonnen von Rulle die hochqualitätsvollen Buch-malereien nicht direkt zuweist. Die enge Kooperation, die hier erkennbar zu werden scheint, unterstreicht ebenso die exemplarische Bedeutung des Codex Gisle für die Kunstgeschichte der Zeit um 1300 wie die durch ihn gebotene Möglichkeit, seine reiche und ungewöhnliche Bilderwelt in einen konkreten Kontext, den Gesang und die Liturgie des Nonnenkonventes der Zisterzienserinnen von Rulle, zu verorten. [7]

Der Text von Fabian Kolb unter dem Titel »Huic opor-tet ut canamus cum angelis« geht der Musik, Liturgie und Spiritualität im Graduale der Gisela von Kerssenbrock nach.[8] Erstmalig setzt sich damit ein Musikwissenschaftler ausführlich mit dem Codex auseinander und würdigt dessen Bedeutung.

Und Hermann Queckenstedt erhellt schließlich die Bedeutung des Zisterzienserinnenklosters Marienbrunn und seine Aura als Wallfahrtsort im Spiegel der Zeit unter dem Titel »Jungfrauen, die ihr Leben Gott geweiht hatten«.[9]


Fazit

Mit dem Faksimile des Codex Gisle haben das Bistum Osnabrück und der Quaternio-Verlag eine außerordentlich verdienstvolle Edition eines historischen Werkes vorgelegt, die hoffentlich dazu dient, dieses Graduale auch einer größeren Öffentlichkeit zugänglich und verständlich zu machen. Sicher ist angesichts des Preises eines derartigen Faksimile das Buch keine Anschaffung für Jedermann, aber gerade jene Institutionen, die Multiplikatoren im Blick auf die Aneignung der Kultur des Mittelalters sind, bekommen so ein wunderbares Medium zur Hand.

Anmerkungen

[1]    Piazzesi, Paolo (Hg.) (1988): Museo dei musei. Ausstellungskatalog Palazzo Strozzi. Firenze: Condirène.

[2]    Eco, Umberto (1988): Del falso e dell'autentico. In: Paolo Piazzesi (Hg.): Museo dei musei. Ausstellungskatalog Palazzo Strozzi. Firenze: Condirène, S. 13–16.

[3]    Eco, Umberto; Memmert, Günter (1995): Die Grenzen der Interpretation. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Kapitel 3,4: Nachahmungen und Fälschungen, S. 217-255.

[4]    So Braun-Niehr, Beate (2015): Der Codex Gisle als Graduale für das Zisterzienserinnenkloster Rulle bei Osnabrück. In: Der Codex Gisle. Ma 101, Bistumsarchiv, Osnabrück; Kommentar zur Faksimile-Edition. Unter Mitarbeit von Beate Braun-Niehr, Walter Wolter-von-dem-Knesebeck und Hermann Queckenstedt. Luzern: Quaternio-Verlag, S. 9–22, S. 18.

[5]    Vgl. Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München: Beck, C H.

[6]    Wolter-von-dem-Knesebeck, Harald (2015): Kunsthistorische Beschreibung und Betrachtung des Codex Gisle. In: Der Codex Gisle. Ma 101, Bistumsarchiv, Osnabrück; Kommentar zur Faksimile-Edition. Unter Mitarbeit von Beate Braun-Niehr, Harald Wolter-von-dem-Knesebeck und Hermann Queckenstedt. Luzern: Quaternio-Verlag, S. 37–92.

[7]    Wolter-von-dem-Knesebeck, Harald (2015): Zur Entstehung und kunsthistorischen Einordnung des Codex Gisle. In: Der Codex Gisle. Ma 101, Bistumsarchiv, Osnabrück; Kommentar zur Faksimile-Edition. Unter Mitarbeit von Beate Braun-Niehr, Harald Wolter-von-dem-Knesebeck und Hermann Queckenstedt. Luzern: Quaternio-Verlag, S. 93–102, hier S. 100.

[8]    Kolb, Fabian (2015): »Huic oportet ut canamus cum angelis« – Musik, Liturgie und Spiritualität im Graduale der Gisela von Kerssenbrock. In: Der Codex Gisle. Ma 101, Bistumsarchiv, Osnabrück; Kommentar zur Faksimile-Edition. Unter Mitarbeit von Beate Braun-Niehr, Harald Wolter-von-dem-Knesebeck und Hermann Queckenstedt. Luzern: Quaternio-Verlag, S. 103–144.

[9]    Queckenstedt, Hermann (2015): »Jungfrauen, die ihr Leben Gott geweiht hatten«. Das Zisterzienserinnenkloster Marienbrunn und seine Aura als Wallfahrtsort im Spiegel der Zeit. In: Der Codex Gisle. Ma 101, Bistumsarchiv, Osnabrück; Kommentar zur Faksimile-Edition. Unter Mitarbeit von Beate Braun-Niehr, Harald Wolter-von-dem-Knesebeck und Hermann Queckenstedt. Luzern: Quaternio-Verlag, S. 145–156.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/am555.htm
© Andreas Mertin, 2016