Der Theologieprofessor

Für Hans-Jürgen Benedict zum 75. Geburtstag

Horst Schwebel

I.

Mittwochs, wenn ich mich mit Krömmelbein im Café treffe, sprechen wir meist über Dinge, die gerade aktuell sind. Krömmelbein, ein ehemaliger Bibliothekar, beeindruckt mich immer wieder, wenn er ein Buch, das gerade erschienen ist, bereits gelesen hat und kluge Worte darüber zu sagen weiß. Krömmelbein gegenüber empfinde ich mich in der Rolle einer Person, die primär etwas empfängt, nicht aber als jemand, der etwas zu geben hat.

Das wurde anders, als mich Krömmelbein eines Mittwochs auf ein Vorkommnis ansprach, das im Feuilleton kontrovers diskutiert wurde. Von mir als ehemaligem Theologieprofessor erhoffte er, angesichts des Sachverhalts, bei dem er mir einen Wissensvorsprung zubilligte, einiges zu erfahren.

Der Sachverhalt war folgender. Die Kirchenleitung hatte einem Theologieprofessor die Lehr- und Prüfungsberechtigung für die Theologie entzogen und forderte die Landesregierung auf, an seiner Stelle eine andere Person mit dem Lehrstuhl an der Universität zu betrauen. Krömmelbein war davon überrascht, dass die Kirche – es handelte sich um die evangelische Kirche – das Recht hatte, zu bestimmen, was an einer Universität gelehrt wird und welcher Prüfer ihr beim Examen genehm ist und welcher nicht. Vor allem wunderte es ihn, dass die Kirche, wenn ihr ein Professor nicht passt, sie beim Staat einen anderen einfordern kann. - Außerdem wollte Krömmelbein wissen, was der Professor denn „Schreckliches“ getan habe, weshalb man ihm die Lehr- und Prüfungsberechtigung entzogen hatte und meinte, ihn durch einen anderen ersetzen zu müssen.

„Schreckliches“ getan habe Lenau, so der Name des betreffenden Professors, eigentlich nichts, sagte ich, wenn man bei „schrecklich“ etwa an einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Studentin denke oder an die Veruntreuung öffentlicher Gelder. „Lenau hat lediglich etwas gelehrt, was im Widerspruch zur Lehre der Amtskirche steht.“

„Was hat er denn gelehrt, dass das solche Folgen haben konnte“, fragte Krömmelbein weiter.

„Lenau“, sagte ich, „ist ein Professor für Neues Testament. Seine Beschäftigung gilt den Urschriften des christlichen Glaubens, vor allem den Evangelien und den Paulusbriefen. Auf Grund seiner Studien vertrat Lenau nun die Meinung, dass die Evangelien und die Paulusbriefe nichts miteinander zu tun hätten. Paulus habe etwas völlig Anderes verkündigt als das, was Jesus verkündigt hat.“

„Mag ja sein. Aber was ist daran so aufregend?“, wollte Krömmelbein wissen. Für mich war dies der Anlass, ihn in ein Problemfeld neutestamentlicher Wissenschaft einzuführen, das bereits vor hundert Jahren für Aufregung gesorgt hatte. Endlich war diesmal ich einmal an der Reihe, der etwas mitzuteilen hatte. Nicht wie sonst der alles wissende Bibliothekar.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war einigen Neutestamentlern nämlich aufgefallen, dass Jesus und Paulus über Gott und den Glauben unterschiedlich dachten. Die Verkündigung Jesu war auf Gott ausgerichtet. Jesus sprach vom Himmelreich, das „nahe herbeigekommen“ sei. Für Paulus stellte sich die Sache anders dar. Dem irdischen Jesus war Paulus nie begegnet. Sein Glaube gründete auf einer Vision, die er vor Damaskus hatte und bei der er meinte, Christus als dem Auferstandenen begegnet zu sein. Im Denken des Paulus ging es nicht um Gott und das Himmelreich, sondern um Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. „Verstehen Sie, worin der Unterschied besteht? Jesus verkündigt Gott und Paulus verkündigt Christus. Da sagten die Neutestamentler: Bei Jesus ist Gott das Objekt des Glaubens, bei Paulus ist Christus das Objekt.“

An solchen Formulierungen konnte sich der Herr Bibliothekar delektieren. Er rekapitulierte: „Jesus als Subjekt verkündigt Gott als Objekt des Glaubens. Bei Paulus ändert sich das und Jesus, das Subjekt der Verkündigung, verwandelt sich zum Glaubensobjekt. Eine bemerkenswerte Karriere.“

„Unbedingt“, stimmte ich ihm bei. „Die Neutestamentler um die Jahrhundertwende hatten das auch schon so gesagt“, antwortete ich ihm. „Jesus blickt nach vorn auf das Himmelreich, Paulus blickt zurück auf die Kreuzigung und die Auferstehung. Da fragten dann einige: Was war denn der Inhalt seiner Auferstehungsvision? Wen hat Paulus denn in seiner Vision gesehen? Den irdischen Jesus doch wohl nicht. Den hat er gar nicht gekannt. Paulus sagte sogar, dass, selbst wenn er den irdischen Jesus gekannt hätte, ihm das nichts bedeutet hätte.“

Darauf Krömmelbein: „Und wer war dann derjenige, dem Paulus in seiner Vision begegnet ist?“

„Wenn Paulus davon sprach, dem Auferstandenen begegnet zu sein, hatte er die Vorstellung von einem Himmelswesen, das seine göttliche Hülle ablegt, auf die Erde kommt, gekreuzigt wird und aufersteht. Danach wird er wiederkommen zum Jüngsten Gericht und im Himmel seine Regentschaft ausüben. Auch der Tod am Kreuz hat nach Paulus noch einen tieferen Sinn: So wie mit Adam im Paradies die Sünde in die Welt gekommen ist, ist Christus als Sühnopfer für die Sünden der Welt gestorben.“

„Da ist mir zu viel Mythos drin“, warf Krömmelbein ein. „Wenn ich mich zwischen Jesus und Paulus entscheiden müsste, würde ich mich natürlich für Jesus und nicht für den Christusmythos von Paulus entscheiden. Genauso wie es der neutestamentliche Professor tat.

„Aber“, so fuhr ich fort, „all diese von Lenau – und wohl auch von Ihnen – strittigen Mythen sind in das Glaubensbekenntnis gekommen.“

„Dann hat also Lenau auch das Glaubensbekenntnis abgelehnt?“

„Genau das hat er getan“, pflichtete ich ihm bei. “Nicht nur die Jungfrauengeburt, Auferstehung, Himmelfahrt, Christi Wiederkunft zum Jüngsten Gericht lehnte er ab. Lenau stellte auch fest, dass das, was das Herzstück der Verkündigung Jesu ist, im Glaubensbekenntnis gar nicht vorkommt: die Himmelreichsverkündigung, der Gott-Vater-Glauben, es gibt auch keinen „verlorenen Sohn“, keinen “barmherzigen Samariter“, selbstverständlich auch keine „Vögel unter dem Himmel“ und „Lilien auf dem Feld.“ Das alles fehlt."

Dieser Gedanke war Krömmelbein neu. Dass im Glaubensbekenntnis das, was Jesus verkündigt hatte, überhaupt nicht vorkommt, hätte er nicht gedacht. „Dann ist das, was im Glaubensbekenntnis steht, eine Erfindung des Paulus und hat mit Jesus überhaupt nichts zu tun?“

„Erfunden hat er es nicht “, ergänzte ich. „Paulus hat manches aufgegriffen, was andere vor ihm gedacht haben, etwa das Himmelswesen, das sich seiner Göttlichkeit entkleidet und menschliche Gestalt annimmt. Aber bei Paulus wurden diese Gedanken zum ersten Mal niedergeschrieben. Die Vorstellung vom Kreuzestod Jesu als Sühnetod für die Sünde Adams im Paradies geht wohl auf ihn selbst zurück. Das alles ist Kirchenlehre und Dogmatik geworden, wurde jahrhundertelang tradiert und wird auch heute noch Sonntag für Sonntag als Glaubensbekenntnis gesprochen.“

Um es nicht bei einem bloßen Gegensatz zu belassen, wie beim Kollegen Lenau, bemühte ich mich darum, auch auf das Verbindende zwischen Paulus und Jesus hinzuweisen. „In beiden wirkt der gleiche Geist. Beiden geht es um den Menschen, den Glauben und die Liebe.“ Ich zitierte das Hohelied der Liebe aus dem 1. Korintherbrief: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.“ Noch andere Bibelstellen zitierte ich in Lutherdeutsch, um meinem Gesprächspartner zu zeigen, bis zu welcher Tiefenschicht Paulus vordrang.

Doch Krömmelbein zu überzeugen, das vermochte ich nicht. Der Bibliothekar nahm Paulus übel, dass er an Stelle des irdischen Jesus ein göttliches Numen gesetzt hatte, den Kyrios Christos, an den geglaubt werden sollte, anstatt an Gott. Vor allem missfiel ihm die Vorstellung vom Opfertod als Wiedergutmachung für die Sünde Adams im Paradies. Dazu war er zu sehr Rationalist. Mit Professor Lenau fand er sich also in bester Gesellschaft. Dass die Kirche den Gelehrten deshalb aus der Theologischen Fakultät ausgeschlossen hatte, empfand er als Skandal. Hätte man nicht lieber die Kirche von der Universität verweisen sollen?

II.

Krömmelbein hatte sich vom geduldigen Zuhörer zunehmend zu einem Parteigänger Lenaus entwickelt. Welche Folgen diese Position für die Kirche haben würde, brauchte er als Bibliothekar und Schöngeist freilich nicht zu bedenken. - Ich versuchte ihm klar zu machen, was geschähe, wenn ein ehemaliger Absolvent der Universität, jetzt Pfarrer einer Landgemeinde, sich weigerte, im Gottesdienst oder gar bei der Taufe das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Das würde zu einem mittelgroßen Aufstand führen. Schlössen sich mehrere Pfarrer dem an, könnte die Kirche ihre Pforten dichtmachen.“

Dem wollte Krömmelbein nicht zustimmen. „Vielleicht wären einige sogar froh, wenn sie diese Sätze nicht mehr aufsagen müssten. Muss man, wenn man an Gott glaubt, diesen ganzen mythischen Vorstellungskomplex mitglauben?“ – Krömmelbein fand es jedenfalls gut, was Professor Lenau getan hatte. Wenn das alle täten, kehre endlich Ehrlichkeit und Redlichkeit in der Kirche ein. „Darf denn ein Theologieprofessor nicht mehr frei heraus sagen, was er als Wissenschaftler herausgefunden hat? Muss er sich eine solche Gängelung durch die Kirche gefallen lassen?“

Damit hatte mir Krömmelbein ein Stichwort gegeben, um einiges über das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Kirche zu sagen.

In seiner Ernennungsurkunde wird einem Universitätsprofessor die Freiheit in Forschung und Lehre – wie jedem anderen Hochschullehrer auch - zugesichert. Ein Theologieprofessor bedarf jedoch zusätzlich noch der Zustimmung der Kirche; in der katholischen Kirche heißt dies: „Nihil obstat“ (Nichts steht im Weg). Die Kirche, egal ob evangelisch oder katholisch, muss also bei der Ernennung ihr Einverständnis erklären. Über die Staatskirchenverträge (ev.) bzw. die Konkordate (kath.) gibt es noch weitere Bestimmungen. So sind die Examina keine staatlichen, sondern kirchliche Examina, durchgeführt unter Vorsitz des Bischofs mit von der Kirche ausgewählten Professoren. Und in den Promotions- und Habilitationsordnungen gibt es sogar eine Konfessionsklausel. Promoviert werden oder sich in einem theologischen Fach habilitieren setzt den gleichen Konfessionsstand wie den der jeweiligen theologischen Fakultät voraus.

Dass die kirchliche Einflussnahme auf die theologischen Fakultäten so weit geht, hätte Krömmelbein nicht vermutet. „Im Fall von Professor Lenau war der Sachverhalt ganz einfach“, führte ich aus. Auf Grund seiner Lehre, die zur Ablehnung des Glaubensbekenntnisses führte, war Lenau für die Kirche nicht mehr akzeptabel. Man entließ ihn aus der Prüfungskommission und erklärte den Studierenden, dass bei ihm erworbene Scheine bei den Prüfungen von der Kirche nicht mehr anerkannt würden. Hinfort galt Lenau nicht mehr als Professor für Neues Testament, sondern wurde fernab von Kirche und Theologiestudenten ein freischwebender Professor für Geschichte der Spätantike. Weil man aber einen Professor für Neuen Testament brauchte, forderte die Kirche für die Theologische Fakultät einen neuen Professor, eine Person, deren Lehre mit der der Kirche übereinstimmte. Diesen neuen Professor für Neues Testament bekam die Kirche dann auch. Von der Landesregierung.

Krömmelbein war außer sich, als er das hörte. Als einer, der sein Leben lang mit Büchern zu tun hatte, mit wissenschaftlichen Büchern zumal, war für ihn die Freiheit der Wissenschaft ein nicht zu überbietendes Gut. Deshalb mussten doch diese vielen Bücher geschrieben werden, weil die Menschen immerzu Altes in Frage stellten und Neues entdeckten. Wer sich der wissenschaftlichen Erkenntnis verweigerte, hatte sich nach Krömmelbein selbst desavouiert.

Meinem Einwand, dass die Kirche durch die Lehre von Professor Lenau das Fundament bedroht sah, auf dem sie stand, ließ Krömmelbein nicht gelten. Solche Praktiken wie die von der Kirche gefährdeten die universitas litterarum in ihrem Grundbestand.

Wie ernüchternd musste es auf Krömmelbein gewirkt haben, als ich nach seinem Gipfelsturm die Bemerkung machte, die Kirche hätte doch im Fall Lenau kein Gesetz verletzt und sich wortgetreu am Staatskirchenvertrag orientiert. Darauf hatte der Herr Bibliothekar nur einen kurzen Lacher parat. Solche Verträge seien von der Wirklichkeit doch längst überholt und spiegelten ein voraufklärerisches Weltverständnis, das wir beide – er sagte tatsächlich wir – doch längst überwunden haben.

Während Krömmelbein der Meinung war, Staatskirchenverträge und Konkordate sollten aufgelöst werden und die Kirchen sollten an staatlichen Universitäten verschwinden, vertrat ich eine gemäßigtere Position. Die positive Grundeinstellung des Staates zu den Kirchen hat doch auch sein Gutes, während der französische Laizismus die Religionsgemeinschaften in die Schmuddelecke stellt. Theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten sollten sich, so begann ich zu dozieren, mit jenem Bereich von Theologie beschäftigen, der einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich ist. Dogmatische und praktisch-theologische Fragestellungen hingegen sollten in kirchliche Hochschulen und Predigerseminare ausgelagert werden. An der Universität sollte eine Theologie getrieben werden, die dem Standard von Wissenschaft entspricht. Was darüber hinaus Glaubenslehre ist, sollte den kirchlichen Ausbildungsstätten überlassen bleiben.

„War das denn Ihrer Meinung nach richtig, was die Kirche im Fall von Professor Lenau gemacht hat?“, wollte Krömmelbein wissen.

„Natürlich war es falsch“, antwortete ich. Die Kirche müsse die Freiheit der Wissenschaft akzeptieren. Das sei die Leistung des Christentums, dass es als einzige Religion seine kanonisierten Texte einer wissenschaftlichen Kritik unterzogen hat. Dann wollte ich Krömmelbein gegenüber aber nicht verhehlen, dass die Wissenschaft nicht alles sei. „Die Wissenschaft kann übrigens den Glauben gar nicht zerstören“, sagte ich. „Das persönliche Vertrauensverhältnis des Gläubigen zu Gott, das Gebet, das gottesdienstliche Erleben lassen sich wissenschaftlich gar nicht erfassen. Religion und Glaube haben gegenüber der Wissenschaft einen Überschuss.“

Und der Bibliothekar: „Trauen Sie denn der Vernunft so wenig zu?“

„Sehr viel sogar, wenn es um Fragen geht, die mit Hilfe von Vernunft zu lösen sind. Etwa wenn es um geschichtliche Ereignisse geht. Aber wie lässt sich der Glaube, wie lässt sich die Liebe wissenschaftlich erfassen?“

„Wissenschaftlich vielleicht nicht. Aber vielleicht über die Kunst und die Poesie.“ - Ja, so kannte ich ihn, Krömmelbein, den Mann der Bücher, in dessen Welt es die Wissenschaft gab, aber darüber hinaus noch einiges Andere.

Wir waren wieder, wie so oft, an ein Ende gekommen. Da wollte der unermüdliche Herr Bibliothekar noch wissen, wie sich wohl der Islam verhalten würde, wenn ein an einer deutschen Universität lehrender islamischer Theologe feststellen würde, dass der Koran gar nicht vom Engel Gabriel diktiert worden sei, sondern dass auch der Koran eine natürliche Entstehungsgeschichte habe. „Hätten dann die islamischen Geistlichen an einer deutschen Universität ebenfalls das Recht, an Stelle des kritischen Islamprofessors einen rechtgläubigen zu bekommen?“

„Wir sollten kein neues Fass aufmachen“, sagte ich, zumal der Nachmittag bereits fortgeschritten war. Außer dem unseren waren die übrigen Tische schon leer. - Dabei fiel mir ein, dass in einer westdeutschen Universitätsstadt tatsächlich islamische Geistliche die Landesregierung aufgefordert hatten, einen kritischen Professor für Islamkunde durch einen anderen zu ersetzen ...

Der Kellner wollte endlich Schluss machen. Wir schlossen uns ihm an.

„Doch wenn man einmal angefangen hat, über diese Dinge nachzudenken, dann geht es immer weiter“, sagte der Bibliothekar noch beim Abschied.

„Aber nicht alle Wege führen über Paris.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/hs21.htm
© Horst Schwebel, 2016