Die Stadt und der Tod ...


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Der barmherzige Heide

Eine Rezension

Wolfgang Vögele

Christian Wagner, Ein Stück Ewigkeitsleben. Ein Lesebuch, eine Werkauswahl, hg. von Axel Kuhn, eingeleitet von Burckhard Dücker, Tübingen: Klöpfer & Meyer 2015

„Ich erzähle von Schwabens heimathlicher Flur und seinen Blumen. Nicht von ihrer botanischen Stellung, […] nein, ich erzähle von ihrem ich möchte sagen ‚Seelenleben‘, d.h. welchen Eindruck sie auf mich gemacht, oder das was sie mir, dem unwürdigen Sonntagskinde, vertraut haben, es mag Thorheit sein, ich weiß es nicht.“ (34)[1] Mit diesen Worten charakterisierte sich dieser Dichter selbst, der sich auch als „Märchenerzähler, Bramine und Seher“ (ebd.) sah. Natur, Blumen und Bäume waren sein großes Thema, und er verfolgte es in Gedichten, Erzählungen und naturphilosophischen Schriften.

Zu Unrecht gehört der Name des Warmbronner Dichters Christian Wagner (1835-1918) zu den Namen, die nur Germanisten (nach dem ersten Staatsexamen), Liebhabern und Lokalpatrioten bekannt sind. In dieser Zeitschrift tauchte Wagners Name schon einmal auf, im Zusammenhang eines Vergleichs des Warmbronners mit Johann Peter Hebel und Johann Wolfgang von Goethe.[2]

Um seinem mangelnden Bekanntheitsgrad abzuhelfen, ist nun im Verlag Klöpfer & Meyer in Tübingen eine Auswahl von Wagners Werken erschienen. Die Herausgabe hat Axel Kuhn besorgt, der Heidelberger Germanist Burckhard Dücker hat eine ausführliche Einleitung beigesteuert, die Biographie, Werkinterpretation und Verortung in der Literaturgeschichte miteinander verbindet.

Christian Wagner hat sich in vielen Genres versucht, und das spiegelt die vorliegende Auswahl auch wieder. Seinen Zeitgenossen war er vor allem als Verfasser von Naturlyrik (69-104.115-176) bekannt, und als Naturlyriker schätzten ihn unter anderem Hermann Hesse und Kurt Tucholsky, mit denen Wagner korrespondierte. Axel Kuhn hat eine Reihe bislang unveröffentlichter Gedichte in die Auswahl aufgenommen.

Gerade wegen seiner Naturlyrik sympathisierte Wagner früh mit Vertretern der ökologischen Bewegung, die sich Ende des 19.Jahrhunderts avant la lettre in Natur- und Vogelschutz, in Vegetarismus und Widerstand gegen die Jagd ausdrückte. Bei Wagner verbinden sich Lyrik und weltanschauliches Programm zu einer ökologischen Ethik, die Ausdruck fand in seinem Katechismus des „Neuen Glaubens“ (Auszug 105-114), in dem er das Evangelium von der „möglichsten Schonung alles Lebendigen“ propagierte. Die Nähe (und wohl auch Verwandtschaft) dieses Prinzips mit Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist oft bemerkt worden. Wagner nahm sich des in Württemberg gebräuchlichen Brenz-Lutherschen Katechismus an, übernahm Form und Methode, das Frage und Antwort-Muster und entwickelte ein ganz eigenes Werk, das in seiner Äquidistanz zu orthodoxem Kirchenglauben und freier Weltanschauung einzigartig dasteht.

In zweiter Ehe war Wagner mit einer Hebamme verheiratet, die stark pietistisch geprägt war. Das hinderte Wagner aber nicht, zeitlebens gegenüber Kirche, Gemeinde und württembergischen Pietismus eher auf Distanz zu halten, was unter anderem in seiner Erzählung „Der Jerusalemsbruder“ (181-184) zum Ausdruck kommt.

Wagners Interesse galt dem Tierschutz, dem Artenschutz, dem Vegetarismus und der Bewahrung der Schöpfung. Entsprechend setzen sich die im Band abgedruckten Essays mit Fragen des Eigentums und der Viehzucht auseinander. Für seine Tierliebe war Wagner im ganzen Dorf Warmbronn als eine Art neuer Franziskus, der zu den Vögeln predigte, bekannt – und gelegentlich nicht unumstritten. Wagner korrespondierte mit dem bekannten Vegetarier Magnus Schwantje, der ihn zu einer Art ökologischem Propheten und Poeten stilisierte. Die Liebe zu den Tieren führte Wagner allerdings zur Religionskritik – und zu dem Bekenntnis: „Ich will lieber ein barmherziger Heide sein, als ein unbarmherziger Christ.“ (192)

Der bekannteste Bürger des Dorfes Warmbronn  ist auf der einen Seite nur auf dem Hintergrund seiner ländlichen Lebenswelt zu verstehen, auf der anderen Seite unternahm er durch seine schriftstellerische Tätigkeit eine Reihe von Anstrengungen, die über diese Lebenswelt hinausweisen. Davon zeugen auch die beiden Reisen nach Italien, die Wagner mit Hilfe einer Mäzenin unternahm und von denen er in Briefen und Gedichten berichtete (280-296).

Auszüge aus der Korrespondenz und Urteile Dritter über Wagner, von Kurt Tucholsky bis Gustav Landauer runden den Band ab (321-379). Zu den Bewunderern Wagners zählt im Übrigen auch der Theologe Helmut Gollwitzer (379), den Gedichte Wagners durch seine Zeit als Soldat und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg begleiteten. 

Aktuell wird Wagners Werk von einer sehr rührigen literarischen Gesellschaft[3] gepflegt, die in Warmbronn das ehemalige Wohnhaus Wagners zurückgekauft, renoviert und zu einem Museum und einer Begegnungs- und Kulturstätte ausgebaut hat. Seit Jahren sorgt die Wagner-Gesellschaft dafür, dass Wiederabdrucke und neu edierte kritische Ausgaben seiner vielfältigen Werke erscheinen können. Auch davon gibt der vorliegende Band ein zusammenfassendes Zeugnis.

Am Ende seiner Einleitung schreibt Burckhard Dücker: „Zu Wagners Programmatik der ‚Schonung alles Lebendigen‘, die er in Bezug auf Pflanzen und Tiere entwickelt und die ein Bekenntnis zum offenen Raum und zur Gastlichkeit einschließt, gehört eine Sozialethik zum Schutz von Minderheiten. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft der einzelnen, zu entsprechenden Änderungen im Handeln bereit zu sein.“ (49) Damit ist vieles von Wagners Bedeutung auf den Punkt gebracht. Für Theologie und Sozialethik ist er deshalb von Interesse, weil er lange vor der ökologischen Renaissance des Protestantismus in den siebziger Jahren in Auseinandersetzung mit seiner dörflichen Lebenswelt, in Kontakt mit frühen Formen der Naturschutzbewegung und in eigenständiger Anstrengung als literarischer Philosoph und Sozialethiker ein bemerkenswertes Oeuvre hervorbrachte, das dem Vers und dem Bekenntnis gleichermaßen verpflichtet war. Vordergründig führte Wagner diese Auseinandersetzung mit dem württembergischen Protestantismus seiner Zeit, den er als verengt, kleingläubig und naturvergessen erlebte. Aber die genaue Analyse von Wagners Werk zeigt, dass er dem kritisierten Glauben gerade in der Kritik daran genauso sehr verpflichtet war. Insofern ist Christian Wagner noch zu entdecken, und der vorliegende Band bildet dafür einen guten Anfangspunkt, nämlich eine Auswahl seiner wichtigsten Texte aller Genres, denen er sich verpflichtet sah.

Anmerkungen

[1]    Alle Seitenangaben im Text stammen aus dem im Untertitel genannten Band.

[2]    Wolfgang Vögele, Verdichteter Glaube. Religion und Literatur bei Goethe, Hebel und Wagner, Tà katoptrizómena, H. 93, 2015, https://www.theomag.de/93/wv15.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/101/wv025.htm
© Wolfgang Vögele, 2016