Die Stadt und der Tod ...


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Der Totentanz von Alfred Rethel

Ein Beispiel politischer Kunst - wiederbetrachtet

Andreas Mertin

Mit den nebenstehenden Worten werden 1849 die angesprochenen Leser dazu aufgefordert, Alfred Rethels „Ein Todtentanz“ genau zu betrachten. Im Jahreswechsel 1848/49 hatte Rethel die Bilder auf die Druckstöcke gezeichnet.[1] Ab Mai 1849 erscheinen in rascher Folge drei Auflagen mit insgesamt 4500 Exemplaren. Aufgrund des Erfolges lässt Rethel die sechs Bilder zu einem Bilderbogen zusammenstellen und in einer Auflage von 10.000 Exemplaren unter dem Titel „Ein Totentanz aus dem Jahr 1848“ verbreiten.

Den Bildern beigegeben sind Verse von Robert Reinick, die das Bildgeschehen näher erläutern. Der Zyklus ist außerordentlich erfolgreich und verzeichnet eine breite Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart. In der Literatur ist dabei umstritten, ob es sich bei dem Zyklus um ein konterrevolutionäres[2] oder ein humanistisches Werk handelt. Sven Drühl etwa sieht in den Bildern Arbeiten „im Dienste politischer Propaganda“ und kommt zu dem Schluss: „Die Totentanzdarstellungen dienen nun als Transportmittel für eine antirevolutionäre, reaktionäre Botschaft, die sich folgendermaßen umschreiben lässt: Die durch die französische Revolution aufgebrachten Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit finden wir nur im Tod und genau in diesen führt uns auch der gegenwärtige Volksaufstand.“[3] Hans Jürgen Imiela hält dem jedoch entgegen: „Ihn zum Konterrevolutionär stempeln zu wollen, wäre Verdrehung von Tatsachen. Alfred Rethel sah die Fragwürdigkeit bewaffneten Aufeinanderlosgehens, und darum ist sein Hinweis auf den einzigen triumphierenden Sieger, auf den Tod, Ausdruck seiner tiefen Menschlichkeit, Aufbegehren gegen jede Revolutionseuphorie und aus mutiger Einsicht kommend.“[4] Vielleicht ist die Differenz der Urteile dadurch zu erklären, dass der eine sich bei der Bewertung mehr auf den Text und der andere mehr auf die Bilder fokussiert. Der Text ist deutlich konservativer, die Bilder offener bzw. ambiguitärer. Man wird den Erfolg des Bildbogens aber nicht auf eine eventuelle revolutionäre Tendenz, sondern auf das Entsetzen über die entfesselte revolutionäre Gewalt des Jahres 1848 zurückführen können. Aber schon 1916 urteilt Eduard Fuchs in seinem monumentalen „Der Weltkrieg in der Karikatur“ über den Zyklus: „Seit Holbein und Dürer ist der Tod in der Kunst keines einzigen Landes so gewaltig und so monumental gestaltet worden“. Aber eben auch: „Rethels Totentanz ist durch und durch politische Tendenz, und er stellte sich damit, wie man sieht, völlig auf die Seite der Reaktion.“ Heute sei er nur noch künstlerisch wertvoll. Fuchs schreibt zum Kontext:

„Als Napoleon endlich niedergeworfen war, war Europa müde des Krieges, es sehnte sich nach Ruhe. Willig fügte es sich darum von neuem dem Absolutismus, der ihm scheinbar die Ruhe brachte. Aber dieses Beugen unter das alte Joch des Absolutismus konnte nur ein Zwischenspiel sein. Es konnte nur solange dauern, bis die Völker sich von den Blutopfern des Napoleonismus wieder erholt hatten, und bis die wirtschaftliche Entwicklung auch in den zurückgebliebenen Ländern soweit fortgeschritten war, daß der Absolutismus hinfort völlig unvereinbar geworden war mit den Interessen der Völker. Dieses war in Frankreich bereits 1830, in Deutschland jedoch erst im Jahre 1848 der Fall. Als es aber soweit war, wurde in beiden Ländern von neuem die Gewalt zur Geburtshelferin der neuen Zeit, die überall gleich ungestüm an die Tore pochte.

Die kriegerischen Blutopfer dieser Zeit waren sehr gering im Vergleich zu denen der napoleonischen Kriege. Aber je weiter sich die Grenzen der menschlichen Betätigung erstrecken, umso höher wird der Wert des Lebens und umso tiefer die Tragik des vorzeitigen Todes empfunden. Deshalb entstand damals eine ganze Reihe von satirischen Totentanzblättern. Außerdem war jetzt überall eine große Kunst teils schon entstanden und groß geworden, teils mächtig im Anzug, und zwar eine Kunst, in der die Ideale der Schaffenden und Vorwärtsdrängenden lebten und wirkten. So konnte die Symbolik des Todes außerdem einen starken und erschütternden Ausdruck finden. Sie fand ihren stärksten in der monumentalen Folge von Alfred Rethel ‚Auch ein Totentanz‘. Seit Holbein und Dürer ist der Tod in der Kunst keines einzigen Landes so gewaltig und so monumental gestaltet worden; und außer bei Rowlandson[5] ist seine Darstellung auch nie mit einem solch grausamen Hohn erfüllt. Im Gewände des Revolutionärs tritt der Tod bei Rethel auf. Nur für ihn kämpfen somit die Freiheitskämpfer, und nur in ihm erfüllen sich angeblich die Ideale der Freiheit: Gleichheit und Brüderlichkeit. Darin besteht der furchtbare Hohn. Rethels Totentanz ist durch und durch politische Tendenz, und er stellte sich damit, wie man sieht, völlig auf die Seite der Reaktion. Durch diesen Umstand ist der satirische Charakter dieses Totentanzes zweifellos ungeheuer gesteigert worden, aber weil er sich auf die Seite der absolutistischen Reaktion stellte, hat er heute nur noch künstlerisches Interesse; sein geistiger Inhalt ist durch die Entwicklung widerlegt worden. Wie alles von der Zeit widerlegt wird, was sich ihr entgegenstemmt. Glaubt man freilich an die Richtigkeit der Rethelschen Idee, so muß man zugeben, daß es keine wuchtigere künstlerische Begründung dafür geben kann, als sie Rethel in diesen sechs Blättern demonstrierte. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, wenn bei der Reklame für die moderneren Neudrucke immer wieder darauf hingewiesen wurde, daß sich diese Blätter besonders dazu eigneten, ‚die törichten Ideen der Sozialdemokratie von Freiheit und Gleichheit zu widerlegen.‘ Weil der Rethelsche Totentanz aktuell in die Kämpfe der Zeit eingriff, widersprach sein rückschrittlicher Gedankeninhalt der Zeit seines Erscheinens mehr als unserer Gegenwart. Eine Folge davon war, daß aus dem Lager der Demokratie alsbald, und zwar gewissermaßen als Antwort, ein Gegenstück zu dem Rethelschen Totentanz erschien. Sein Titel lautete ‚Noch ein Totentanz‘; er erschien anonym im Verlage von Roller in München. Diese Folge hat heute nur noch zeitgeschichtliches Interesse, weil ihr die große künstlerische Form fehlte. Nur diese verhilft zu ewigem Leben in der Kunst, darum lebt andererseits der Rethelsche Totentanz auch heute noch sein starkes Leben. Die Idee ist zwar nicht das Vergängliche, aber diese lebt außerhalb des Kunstwerks sowieso immer in Tausenden von Köpfen zugleich.“[6]

Blatt 1

Das erste Blatt führt in das Thema ein: ein Skelett erwacht und steigt aus einem ursprünglich mit einem Kreuz geschmückten Grab und wird nun von fünf krähenfüssigen Frauen als personifizierter Tod in Gestalt des Sensenmanns ausstaffiert. Der entmächtigten und gebundenen Justitia, unter der die Weltordnung zusammenzustürzen scheint, werden die Attribute entwendet und dem Skelett übergeben. Die personifizierte List mit einer Schlange als Halskette überreicht ihm das Schwert und die Lüge mit einer Maske vorm Gesicht die Waage. Beide verweisen dabei auf die ohnmächtige Justitia. Dann steuert die den Tod zugleich im Spiegel zeigende Eitelkeit den Hut (vermutlich einen Heckerhut) und die Tollheit ein Pferd bei. Und schließlich erhält der so Ausstaffierte von der Blutgier, die sich bedeckt im Hintergrund hält, die Sense. Den Rahmen dieses Geschehens bildet das revolutio­näre Geschehen: der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüdersinn, der wie sich hier zeigt, als erstes Opfer die Gerechtigkeit hat. Das Thema lautet: Frei und gleich sind die Menschen nur im Tod.

Blatt 2

Das zweite Blatt zeigt den einer Stadt zustrebenden Tod als Reiter im Galopp. Der erläuternde Text dazu ist satirisch-scharf. Zunächst einmal aber sehen wir den Reiter mit seinen Attributen Hut, Sense und Waage auf seinem Pferd, das Schwert an der linken Seite. Im Mund trägt der Tod deutlich erkennbar eine Zigarre. Das ist für heutige Betrachter erklärungsbedürftig: „In Preußen betrachtete man die Angewohnheit des Zigarrenrauchens mit Argwohn, denn es galt zur Zeit vor der Märzrevolution als ein Symbol für ‚Volksverhetzer‘. So war in Berlin das Rauchen der Zigarre auf der Straße verboten. Missachtung dieses Gesetzes wurde als ‚Auflehnung gegen die herrschende Staatsgewalt‘ angesehen. Nach der Revolution wurde das Verbot 1848 als ‚Zugeständnis an die Revolutionäre‘ aufgehoben.“[7] Also dürfte dieses Symbol nicht zufällig hier platziert sein. Rechts im Vordergrund des Reiters schrecken Raben auf. Vor allem aber flüchten direkt darüber zwei Bauersfrauen vor dem Sensenmann. Im Hintergrund dann die von einer Mauer umgebene Stadt mit einer Kathedrale und vor allem mit Industrie­an­lagen mit rauchenden Schloten. Der Text dazu hebt die Widersprüche hervor: Der ‚Freund des Volkes‘ vor dem das Volk dennoch flieht. Der Tod, der sein eigenes Ross und die mit ihm assoziierten Raben zum Schreien und Stöhnen bringt. Die Schönheit und Friedlichkeit der Natur und der sich ankündigende Schrecken der von Menschen gemachten Revolution.

Bild 3

Das dritte Blatt zeigt den in der Stadt angekommenen Tod. Er trägt nun erkennbar einen Heckerhut mit Revolutionsborte. Links von ihm eine Gruppe bereits angetrunkener Revolutionsanhänger und sonstige Neugierige. Rechts das Pferd und davor eine Frau am Stock, die ein sich sträubendes Kind wegführt. Der Tod steht mit dem Rücken zu einer Schenke, an deren Mauer die Parole der Aufständischen „Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit“ geklebt ist. Über der Tür der Kneipe sieht man als Ausschankzeichen ein Hexagramm mit einem Trinkgefäß. Das könnte – muss aber nicht – das Geschehen in den fränkischen Raum verweisen, in dem diese Kombination häufiger anzutreffen ist.[8]

Der Tod führt den Zuschauenden nun einen Trick vor, bei dem eine Krone so viel Wert ist (so viel wiegt) wie eine Pfeife (auch dies ein gängiges Revolutionssymbol). Das gelingt nur, indem er die Waage bewusst falsch anfasst. Daraufhin wird der Tod von den Dabeistehenden zum Führer des Aufstands erwählt.

Nur die blinde Frau im Vordergrund mit dem Krückstock in der Hand wendet sich ab. Das könnte man nun als Anspielung auf die ihrerseits ja durchaus revolutionäre Botschaft aus Jesaja 35, 4ff.[9] und Matthäus 11, 5 par[10] beziehen. Dass heute nur noch die Blinden (den Schrecken der Revolution) sehen und nur die Lahmen (vor deren Folgen davon-) gehen, könnte die paradoxe Botschaft des Bildes sein.

Bild 4

Das vierte Blatt zeigt den sich nun entfesselnden Aufstand. Die bisherige Ordnung wird durch die zur Niederschlagung der Revolution heranmarschierenden Soldaten links im Hintergrund angedeutet. Auf dem Rednerpult steht der nun ganz ummantelte Tod, der mit spitzen Fingern sein Schwert, auf dem nun „Volksjustiz“ steht, an die tobende Masse übergibt. Links neben ihm eine Figur, die die Fahne der Republik trägt. Die rechte Seite ist gefüllt mit rasenden Menschen, die zum angebotenen Schwert der Volksjustiz greifen und zum Teil schon mit Steinen und Knüppeln bewehrt sind. „Blut!“ Blut! Viel tausend Kehlen schrein“ - die implizite Anspielung des Textes auf Matthäus 27, 25 ist unverkennbar.

Aber auch zeitgenössisches revolutionäres Liedgut könnte hier aufgegriffen sein, wie etwa das folgende, 1815 von Karl Follen gedichtete große Lied, das nach der Melodie von „Heil dir im Siegerkranz“ gesungen wird:[11]

Brüder, so kann’s nicht gehen
Lasst uns zusammen stehn
Duldet’s nicht mehr!
Freiheit, dein Baum fault ab
Jeder am Bettelstab
Beißt bald ins Hungergrab
Volk ans Gewehr!

Dann wird’s, dann bleibt’s nur gut
wann du an Gut und Blut
Wagst Blut und Gut.
Wann du Bogen und Axt,
Schlachtbeil und Sense packst,
Zwingherrn den Kopf zerhackst
Brenn, alter Mut!

Bruder in Gold und Seid’,
Bruder im Bauernkleid,
Reicht euch die Hand!
Allen ruft Teutschland’s Not
Allen des Herrn Gebot:
Schlagt eure Plager tot
Rettet das Land!

Blatt 5

Das fünfte Blatt zeigt nun die Peripetie des Dramas. Der Kampf ist entbrannt, auf beiden Seiten sterben die Menschen. Auf der linken Seite kämpfen die Aufständischen mit Steinen, Brettern und eroberten Bajonetten, rechts eröffnen die mit Bajonetten bewaffneten Soldaten mit einer Kanone das Feuer. Der nun mit der Fahne der Republik bewehrte Tod enthüllt den Kämpfenden (und Sterbenden) seine wahre Identität, die er bis dato verborgen hatte: er ist der Tod, der alle Menschen ihm gleich und zu Brüdern machen will. Die Freiheit, die er verkündet, ist die Freiheit vom Leben. Er offenbart die Schattenseite der Gewalt, der „Geburtshelferin der neuen Zeit, die überall gleich ungestüm an die Tore pochte“.

Man kann in Rethels Bildkonzeption unschwer eine Anspielung auf „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix aus dem Jahr 1830 erkennen. Nur dass die Göttin Freiheit durch den Tod großen Gleichmacher ersetzt wurde und der dramatische Handlungsaspekt nicht mehr beim revolutionären Aufbruch, sondern beim qualvollen Sterben liegt.

Blatt 6

Das sechste und letzte Blatt des Zyklus‘ zeigt den Ausritt des triumphierenden Todes aus der zerstörten Stadt. Die Ordnungsmacht hat scheinbar gewonnen, der Aufstand ist niedergeschlagen. Aber der wahre Sieger ist der Tod, der reichlich Ernte eingefahren hat. „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“. Wir sehen überall Leichen liegen, während Frau und Kind die Toten beklagen. Das Schwert liegt nun ungenutzt herum. Der Tod aber hat seinen Mantel abgeworfen, den Kepler-Hut abgesetzt und trägt nun den Siegerkranz und eine bleiche Fahne. Sein Blick ist einem Sterbenden zugewandt: „Tu fui, ego eris“ - „Was du bist, war ich; was ich bin, wirst du sein.“ Die Stadt hat als Schlachtort ausgedient, sie liegt zur Hälfte in Trümmern.

Man hat in diesem Bild eine Anspielung auf Dürers Apokalyptische Reiter sehen wollen, aber viel wahrscheinlicher scheint mir die Verbindung mit Dürers Zeichnung von 1505, die den bekrönten Tod als Skelett auf einer Schindmähre zeigt und neben dem die Worte Memento mei stehen.

Und sicher kann man im Lorbeerkranz eine Anspielung auf die preußische Hymne „Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands“ sehen, die eine Negativfolie für den gesamten Bildzyklus sein könnte: „Heilige Flamme, glüh, glüh und erlösche nie fürs Vaterland! Wir alle stehen dann mutig für einen Mann, kämpfen und bluten gern für Thron und Reich!“ Nur dass an die Stelle des preußischen Königs der Tod getreten ist.

Zur Aktualität des Totentanzes von Alfred Rethel

Zunächst ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, was Eduard Fuchs 1916 über den Totentanz-Zyklus von Alfred Rethel notiert hatte:

Seit Holbein und Dürer ist der Tod in der Kunst keines einzigen Landes so gewaltig und so monumental gestaltet worden ...
... weil er sich auf die Seite der absolutistischen Reaktion stellte, hat er heute nur noch künstlerisches Interesse; sein geistiger Inhalt ist durch die Entwicklung widerlegt worden.
... die große künstlerische Form ... verhilft zu ewigem Leben in der Kunst, darum lebt andererseits der Rethelsche Totentanz auch heute noch sein starkes Leben.

Man könnte auch sagen, der konkrete Anlass war nur das außerästhetische Substrat, mit dem Rethel gearbeitet hat. Dieses Substrat ist historisch kontingent, deren künstlerische Bearbeitung behält jedoch ihre Qualität. Abstrahiert ist Rethels Thema die Dialektik der Aufklärung. Ersetzt man die Parolen auf den Bildern durch jene des Daesch, der Ideologie sät und Tote erntet, dann erhalten sie ihre Aktualität zurück.

Der Tod ...

Der Tod ist in diesem Totentanz nicht der, den wir aus dem Basler Totentanz, dem Totentanz von Hans Holbein, Matthäus Merian oder auch dem Totentanz der Berliner und der Lübecker Marienkirche kennen. Diese sind ein Tanz des Todes mit den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft bzw. der Stände. Seit Adam und Eva, so künden sie, sind alle dem Tod unterworfen, unterschiedslos ob Papst, Kaiser König oder Bischof, ob Edelmann oder Arbeiter.

Das ist aber nicht das Thema bei Rethel. Der Tod wird hier explizit auferweckt, um aus künstlichem Anlass – der Revolution – tätig zu werden. Für diesen Anlass wird er ausstaffiert und diesen Auftrag führt er aus. Es geht also um den vor-zeitigen Tod. List, Lüge, Eitelkeit, Tollheit und Blutgier bewirken seinen Auftritt. Was bei Rethel nicht zur Sprache kommt, was nicht im Bild erscheint, ist der Tod unter der infolge von Missernten hungernden Bevölkerung vor der Revolution. Der Totentanz bei Rethel ist sekundärer Reflex auf die Normalität des Todes in breiten Schichten der Bevölkerung vor der Revolution. Was dagegen die Zahl der durch die Revolution bedingten Toten angeht, so war sie, wie Eduard Fuchs zu Recht festhält, eher gering.[12]

... in der Stadt ...

Dass der Tod bei Rethel in der Stadt tätig wird, geschieht nicht zufällig. Die Landbevölkerung flieht die Lebensbedrohung, die sich aus den Aufständen ergibt. In der Stadt aber ist mit der Zeit ein explosives Potential für Aufstände gewachsen:

„Eine neue Bevölkerungsschicht, das Proletariat (die abhängig beschäftigte Arbeiterklasse), wuchs rasch an. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Industriebetrieben und deren Umfeld waren im 19. Jahrhundert in der Regel katastrophal. Die meisten Arbeiter lebten in den Ghettos und Slums der Städte am Rande des Existenzminimums oder oft auch darunter, von Arbeitslosigkeit bedroht und ohne soziale Absicherung. Schon Jahre vor der Märzrevolution war es immer wieder auch zu kleineren, regional begrenzten Aufständen gegen Industriebarone gekommen.“[13]

Wenn man nichts mehr zu verlieren hat, kann man nur noch bzw. immer noch über die Art des Todes bestimmen. Man kann alles einsetzen, um zumindest potentiell etwas (das Leben) zu gewinnen. Es ist vielleicht die zentrale Schwäche der Bilder von Rethel, dies nicht zum Ausdruck gebracht zu haben. Jener Tod, der durch Unfreiheit, Ungleichheit, Unbrüderlichkeit das Regime über den Alltag des Lebens in der Stadt führt, kommt bei ihm nicht vor.

Was er aber präzis im Bild erfasst, ist der Umstand, dass Menschen sich durch nebulöse Ideologien leicht beeinflussen lassen, Leib und Leben zu opfern oder anderen Menschen das Leben zu nehmen. Und dazu bedarf es nicht einmal menschlicher List, Lüge, Eitelkeit, Tollheit und Blutgier. Es bedarf nur eines Anlasses, beschädigter Existenzen und einer vagen Hoffnung dem scheinbaren Schicksal zu entkommen. Dann sind viele bereit, selbst die Gestalt des Todes anzunehmen, sei es 1848/49 oder 2015/16.

Anmerkungen

[1]       Imiela, Hans Jürgen (1989): Alfred Rethel. In: Hans Helmut Jansen (Hg.): Der Tod in Dichtung Philosophie und Kunst. Zweite, neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Heidelberg: Steinkopff, S. 371–379.

[2]       Boime, Albert (1991): Alfred Rethel's Counterrevolutionary Death Dance. In: The Art Bulletin 73 (4), S. 577.

[3]       Drühl, Sven (2001): Tanz mit dem Tod. In: Sven Drühl (Hg.): Choreografie der Gewalt. Ruppichteroth: Verlag Kunstforum (Kunstforum International, 153), S. 46–73.

[4]       Imiela, Hans Jürgen (1989): Alfred Rethel, a.a.O., S. 378.

[5]       Gemeint ist: Combe, William, Rowlandson, Thomas (1815): The English Dance of Death. 2 Bände. London.

[6]       Fuchs, Eduard (1916): Der Weltkrieg in der Karikatur. Bis zum Vorabend des Weltkrieges. Mit 333 Textill. u. 47 Beil. München: Langen (Bd. 1). S. 78ff.

[7]       Art. Geschichte des Tabakkonsums, Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Tabakkonsums

[9]       Jesaja 35, 4 Saget den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Sehet, euer Gott, der kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. 5 Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren geöffnet werden; 6 alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und der Stummen Zunge wird Lob sagen. Denn es werden Wasser in der Wüste hin und wieder fließen und Ströme im dürren Lande. …

[10]     Matthäus 11, 5 die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt.

[11]     Noch martialischer ist das Vorwort zum Großen Lied: „Horcht auf, ihr Fürsten ! Du Volk, horch auf ! / Freiheit und Rach' in vollem Lauf, / Gottes Wetter ziehen blutig herauf! / Auf, dass in Weltbrands Stunden / Ihr nicht schlafend werdet gefunden ! / Reiss' aus dem Schlummer dich, träges Gewürme / Am Himmel, schau auf, in Gewitterspracht / Hell Hell aufgegangen dein Todesgestirne ! / Es erwacht, / Es erwacht, / Tief aus der sonnenschwangern Nacht / In blutflammender Morgen wonne, / Der Sonnen Sonne / Die volkesmacht! / Spruch des Hernn, du bist gesprochen, / Volkesblut, Freiheits blut, du wirst gerochen / Götzendämmrung, du bist angebrochen.“ Man könnte Alfred Rethels Bild-Zyklus als direkt Antwort auf diese Verse verstehen.

[12]     „Die kriegerischen Blutopfer dieser Zeit waren sehr gering im Vergleich zu denen der napoleonischen Kriege.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/101/am540.htm
© Andreas Mertin, 2016