Das katoptrische Universum


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Von der Utopie zur Dystopie. Apokalyptische Filme als Spiegel der Zeit

Inge Kirsner

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein
dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht".

(Paulus, 1.Kor. 13,12)

Persönliches Vorwort:

"Wie im Spiegel ein dunkles Bild" - so sollte der Titel meiner Dissertation, angefangen 1992, beendet 1995, heißen und 1996 gedruckt werden; doch der Lektor hielt den Titel für zu poetisch-unkonkret und schlug das "Programm" der Dissertation als Titel vor: Erlösung im Film. Nun, 20 Jahre später, ziehe ich die beiden Titel zusammen und stelle Überlegungen zur Spiegelfunktion des Mediums und seiner Inhalte vor.

Es heißt "Film" und nicht Kino, weil ich auch einen TV-Film miteinbeziehe, in unvermindertem Glauben daran, dass Kino immer der eigentliche Ort der Films ist (und für mich bleiben wird); und doch das Fernsehen (stellvertretend für die anderen Medien, die Filmesehen ermöglichen) innovative Möglichkeiten hat, in der Produktion und der Ausstrahlung auch von Serien (früher Mehrteiler genannt), die in immer stärkerer Weise Spiegel der Gesellschaft sind.

1. König der letzten Tage (Tom Toelle, D 1992)

Warum mit einem alten Mehrteiler aus dem vergangenen Jahrhundert beginnen?

Dafür gibt es drei Gründe.

1. Ich habe ihn damals bei der Erstausstrahlung gesehen, er kam spät im Fernsehen und hielt mich wach. Seine Bilder blieben mir jahrzehntelang im Gedächtnis; die Idee, den König der Wiedertäufer im himmlischen Jerusalem (= Münster) im Film einen Schauspieler spielen zu lassen, der, wie Daniel Coulombe in "Jesus von Montréal", in seine Rolle derart hineinwächst, dass er schließlich wird, was er spielt, fand ich stark.

2. Dieser Schauspieler ist Christoph Waltz, der Jan Bockelson spielt, der Jan van Leyden spielt. Er spielt diese Rolle mit Charme und Charisma, fast so intensiv wie seine Oscarrolle in "Inglourious Basterds". Er lässt dieser Rolle auch einen Charakterzug angedeihen, der Jan Beukels in Robert Schneiders Roman "Kristus" (Berlin 2004) vollständig fehlt: Humor. Auch wenn dieser (wie später bei Tarantino) zynische Züge annimmt, wenn er z.B. antwortet, da sei er halt mal "aus der Rolle gefallen", wenn sein Spiegel(freund) Kien ihm vorwirft, ohne Skrupel einen Menschen getötet zu haben.

 3. Im Film selbst ist der Freund Sebastian Kien, Schaustellerkollege aus alten Zeiten, lebensnotwendiger Spiegel für Jan. Er braucht ihn, der ihn unverstellt kennt. Dem Spiegel-Freund kann er nichts vormachen, er zeigt ihm die Wahrheit über das eigene Selbst; kann immer wieder korrigierend eingreifen und dem Freund heraushelfen, bis er das böse Spiel nicht mehr aushält und weg will; da wird er eingesperrt, weil Jan ohne seinen Spiegel nicht herrschen kann.

Als Film ist "König der letzten Tage" nicht nur Seismograph für die Zeit der 1990er Jahre; was Regisseur Tom Toelle zur Motivation für seine Arbeit sagt, das gilt auch für spätere Zeiten:

"Die Parallelen liegen darin, dass es damals wie heute eine Zeit der Zukunftslosigkeit, der Angst vor der Zukunft ist. ... die Menschen wussten nicht, wie es weitergeht. Sie hatten zwar damals sehr viel mehr metaphysische ... Gründe und Vorstellungen, aber die Angst vor dem Weltuntergang verbindet das Damals mit dem Heute ... Solche Figuren wie Jan van Leyden haben das teils bewusst und zynisch, teils mit einem guten Gespür für Demagogie ausgenutzt und den Leuten gesagt: Wenn ihr überleben, eure Ängste ablegen wollt, dann müsst ihr zu mir kommen, dann müsst ihr mir nachfolgen, und das haben die Leute in großen Mengen getan ...

Wenn die Führer fehlen, die Visionen fehlen, wenn die geistigen, geistlichen und weltlichen Führer ratlos sind, vielleicht auch verantwortungslos und korrupt, dann sind die Leute, lange genug präpariert, bereit, einem solchen Mann zu folgen".[1]

Toelle bettet seine Figur in einen opulenten Bilderreigen ein, zeigt den Ausgang des Spätmittelalters und den Aufbruch in die Neuzeit in prächtigen Kulissen, der Schmutz auf den Straßen wirkt dabei so lebensecht wie der (im Studio z.T. wiederaufgebaute) Marktplatz in Münster. Diesen Schauplatz betreten wir im Jahr 1534 aus der Perspektive des Wanderschaustellers Sebastian Kien, der soeben mit einer List das Leben der jungen Engele Kerkerinck gerettet hat; deren Familie wurde zuvor aus Inquisitionsgründen erhängt, ihr hätte dasselbe Schicksal gedroht. Sie bleibt bei Sebastian, bis sie bei einem Auftritt in Münster die Predigt des Jan Bockelson hört, den Sebastian als ehemaligen Weggefährten wiedererkennt und dem Engele verfällt.

Als Sebastian ihn während einer wirkmächtigen Rede zur Johannesapokalypse bloßzustellen droht, lässt Jan ihn festsetzen - um ihn später herzlich zu begrüßen und seinen Werdegang vom Bordellbesitzer zum Propheten zu schildern (DVD 1, K. 5, 27,57-29,03). Bei der Probe zu einer Aischylos-Rezitation hätten zufällige Passanten nicht einfach nur applaudiert - sondern sie hätten sich niedergekniet und gebetet! Da wäre ihm der Gedanke gekommen, die schmale Kasse aufzubessern und sein offensichtliches Talent in anderem Zusammenhang zu nutzen - er wird zum Stellvertreter des Propheten Jan Matthys, der ihn getauft hatte, und danach zum König des Wiedertäuferreiches von Münster.

Obwohl Engele weiß, dass Sebastian und Jan einander aus gemeinsamen Schaustellerzeiten kennen, bescheinigt sie dem selbst ernannten Propheten dennoch: "Wenn Ihr von Gott redet, weiß man, dass es ihn gibt – weil ... Eure Augen reden und Eure Hände ..." (K.9, 1.11.03).

Der Schein wird zum Sein: als der "König von Münster" schließlich gefasst wird und der Kurfürst von Waldeck fragt, wie er "unter der Folter sei", wird ihm gesagt, er sei unbeirrbar. Jan widersteht den Versuchen, ihn zu brechen, verhält sich wie ein wahrhaft Glaubender und wird schließlich als Märtyrer zu dem, für den seine Jünger ihn hielten: zu einem Mann Gottes. Er wird zu dem, was er nur zu spielen glaubte; das "Embodiment", die Verleiblichung, ist ernst geworden.

Den Todesstoß - ein Gnadenstoß, der ihn vor weiterer Folter bewahren soll - versetzt ihm schließlich der Freund, der ihm immer weitergeholfen hat, wenn der Prophet "nicht mehr weiter wusste im Text". Sebastian Kien, der auch schon mal aufgrund seiner Herrschaftskritik im Gefängnis landet, hat seinen Nebenbuhler, einstigen Weggefährten und am Ende fast zum Todfeind gewordenen Jan van Leyden die ganze gemeinsame Wegstrecke über kritisch begleitet, war ihm Spiegel: wenn er zu weit gegangen ist, an die Grenze kam und schließlich am Ende war.

Exkurs: Jan Beukels in Robert Schneiders "Kristus" (Berlin 2004)

Ein solcher Spiegel, eine distanzierte Figur wie in Toelles Film Sebastian, in die sich die Rezipierenden eintragen können, wird in Robert Schneiders Roman von einem Karmelitermönch verkörpert, der die Hauptfigur begleitet; auch dann noch, als der Erzähler sich am Ende von ihr distanziert, indem er uns nicht mehr am Innenleben der selbst ernannten "Christusfigur" teilhaben lässt.

"Ich will Christus werden!"

So antwortet der Schüler Jan Beukels auf die Frage des Lehrers, was er einmal werden will. Dies bringt ihm harte Schläge ein, denn wir befinden uns im 16. Jhdt. und Lehrer Joest ist überzeugt, dass niemand Christus werden könne, niemand! Und doch ist der kleine Jan einem Christus begegnet, so erzählt es Robert Schneider in seinem Roman "Kristus" (Berlin 2004): der saß auf einem Esel, während einer Palmsonntagsprozession in Leyden. Eine Begegnung, die für den Jungen prägend wird. Er will seinen Christus wiedersehen und setzt alles daran, den Mann zu finden. Schließlich dringt er bis in das Karmeliterkloster vor, wo der Mönch Gerrit tom Kloister lebt. Diesem erzählt er von seinem Schulerlebnis und der Behauptung des Lehrers, dass niemand Christus werden könne.

"Aber Ihr seid doch der Christus!" sagt Jan zum Mönch. Dieser antwortet:

"Nein, der bin ich nicht. Da hat dein Meister Joest wohl recht. Niemand kann Christus werden. Du kannst nur du selber werden. Und das ist schon viel. Sehr viel sogar."-

"Warum seid Ihr nicht Christus? Ihr seid doch auf dem Esel in die Stadt geritten."-

"Siehst du, mein Junge, wir Erwachsene sind keine Kinder mehr, die noch glauben, was sie sehen. Im Gegenteil: Auch wenn wir die Wahrheit sehen, glauben wir sie nicht. Wäre Christus am Palmtag wirklich nach Leyden gekommen, niemand hätte ihn erkannt, geschweige ihm mit Hosanna gehuldigt. Der, den du am Palmtag auf dem Esel gesehen hast, das war nur ein Schausteller, ein erbärmlicher Possenreißer, ein minderer Spielmann..." (S.62)

Jan Beukels, der sich später Jan van Leyden nennt, wird viele Rollen spielen in seinem Leben; die größte ist die des Königs der letzten Tage in Münster, wo er mit anderen Wiedertäufern ein Gottesreich errichten will.

Das Buch "Kristus" handelt davon, wie religiöser Fanatismus entsteht, wie manipulierbar Menschen sind. Es zeigt, wie Jan Beukels verschiedene Rollen durchprobiert und schließlich so viel Gefallen an seiner Königsrolle findet, dass er jede Distanz verliert und statt eines himmlischen Jerusalem aus der Stadt Münster eine Terrorstadt macht.

Jan Beukels wird als fanatischer Wahrheitssucher gezeigt; er nimmt seinen "Kristus", den Kartäuser Gerrit tom Kloister, mit auf den Weg, dieser bleibt ihm ein Leben lang ein unbestechlicher Spiegel.

Der Mönch ist auch dabei, als sich die Führungsriege - schon schwer in Bedrängnis durch die Belagerung - noch einmal trifft. Bernhard Rothmann, der als Prediger schon vor Beukels die allgemeine Umkehr ausrief, ist der Überzeugung, dass Münster nur deshalb eher Hölle als Gottesreich geworden sei, weil die Menschen nicht alle "wahrhaftig nach der Schrift gelebt" hätten. Sonst nämlich wäre Gott mit ihnen gewesen und nicht gegen sie. Doch Gerrit sagt zu ihm:

"Ich will gerne glauben, dass Ihr allezeit die Wahrheit gepredigt habt. Daraus erhebe ich keinen Vorwurf. Was ich Euch und allen, die hier versammelt sind, vorwerfe, ist, dass Ihr die Wahrheit gefunden haben wollt."

"Die Wahrheit ist die Schrift!" entgegnet daraufhin Bernhard bitter, doch Gerrit sagt: "So verstehen es auch die, die Ihr Gottlose nennt. Und darum wird das Sterben, werden die Zähren und das Elend kein Ende haben."

"Was hätten wir denn tun sollen?" fragt ein anderer, der einstige Gewandschneider Knipperdolling, den Karmeliter.

Nichts, erwidert dieser. Nur dies: "Die Wirklichkeit in ihrer unbegreiflichen Ungerechtigkeit aushalten". (557)

Vielleicht wird die harte Rede des Mönchs annehmbarer, wenn sie etwas modifiziert wird: Die Wirklichkeit in ihrer Unbegreiflichkeit aushalten. Dies scheint zunächst der Suche nach Sinn entgegenzustehen, erscheint als Zumutung. In Schneiders Buch gehen wir solange mit dem jungen Schneider Jan mit, wie er seine Transformation noch nicht vollendet hat; sobald er beschließt, selbst der Christus, die Auferstehung und das Leben zu sein, wird von ihm nur noch in der Außenperspektive erzählt. Wie auf einer Bühne betrachten wir nun sein restliches Leben, von außen, werden zu Zeugen seines großen Irrtums, er könne jemand anders werden als er selber, wie Gerrit es ihm schon zu Beginn als einzige Aufgabe vorgelegt hat.

Was hilft dabei, die Wirklichkeit in aller Unbegreiflichkeit auszuhalten?

Filme, Serien, Theaterstücke zeigen uns Vorstellungen von uns, sie sind Spiegel. Sie veranschaulichen, wie die Wirklichkeit strukturiert ist; sind visionär, weil sie Schichten aufdecken, die Motive verbergen, und eine Sehnsucht freilegen nach dem, was wahr, was ganz, was heil ist oder was der Heilung bedarf. Sie spielen uns etwas vor, doch dieser Spiegel lässt Fragen dringlich werden, nach der Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Sinn ist immer erarbeitet, er ist nicht einfach gegeben, auch nicht durch einen Glauben an Gott.

"Ich werfe euch vor, dass ihr glaubt, die Wahrheit gefunden zu haben!" sagt Gerrit den Wiedertäufern. So nämlich glauben sie sich im Recht, was ihre Handlungen angeht, die sich bald nicht mehr von denen unterscheiden, die sie abschaffen wollten; die alte soziale Ungerechtigkeit wird nur durch eine andere, sogar tödlichere, ersetzt.

Deshalb lieben Diktaturen solche Spiegel nicht, sie hassen Alternativen und so haben Theater und andere Religionen als staatlich verordnete einen schweren Stand. Die Freiheit des Glaubens ist zugleich eine der Kunst, der Künste; oder anders gesagt: wo andere Glaubensformen respektiert werden, da ist auch das freie Spiel auf der Bühne, der Leinwand, den Tasten und der Buchseiten willkommen, muss der Glaube offen sein für Infragestellungen aller Art. Auch solchen wie die der Literaturkritikerin Iris Radisch, die, befragt zum "Sinn des Lebens", folgendes sagt:

"Als wenn es nicht reichen würde, dass man lebendig ist. Solange man lebt, also richtig lebt, spielt die Sinnlosigkeit keine Rolle. Camus mochte sie gerne, er hielt sie für etwas ganz Großes. Nachts schaute er in den Himmel und freute sich über die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt’. Ich glaube, Camus hat Recht. Der Sinn des Lebens besteht darin, seine Sinnlosigkeit zu ertragen, ohne ein riesiges Theater darum zu machen". (in: Zeit Wissen, Nr. 1 Dez. 2015 / Jan. 2016, S.101).

Die Wirklichkeit in ihrer Unbegreiflichkeit aushalten, dazu kann der Glaube an einen Gott helfen, der sich ganz auf diese Wirklichkeit eingelassen hat, die bunter wird und schöner und voller Verheißungen durch das Theater, die Musik und die anderen Künste, die sie spiegeln, aufbrechen und uns immer wieder zu der Lebendigkeit verhelfen, die die Welt zu einem wahrhaft schönen Ort macht.

Weder Toelle noch Schneider zeichnen die Welt als "schönen Ort"; ihr Nachzeichnen des historischen Versuches, ein himmlisches Jerusalem und somit einen Gottesstaat auf Erden zu schaffen, zeigen den Anfang der Neuzeit als Spiegel der heutigen Zeit. Eine Zeit, die nur noch in Dystopien zu beschreiben ist und die gekennzeichnet ist durch den Versuch, den "vom westlichen Kapitalismus totgeschlagenen Gott im Gewand des Fundamentalismus ins Leben zurückzuholen". [2] Dystopien sind gekennzeichnet durch das Fehlen einer "Gegenwelt", einer Alternative.

Die Dystopie ist an die Stelle der Utopie getreten; im Folgenden wird nun eine Literaturverfilmung betrachtet, die - nach vier Teilen - 2015 ihren Abschluss fand und als deren Markenzeichen eben das Dystopische betrachtet wurde.

2. Die Tribute von Panem (Francis Lawrence, Gary Ross, USA 2012-2015)

Katniss Everdeen, die Hauptfigur der vier "Panem"-Verfilmungen, ist das Gegenteil von Toelles Jan van Leyden: sie ist schauspielerisch nicht begabt (die Werbefilme, die sie zur Rebellin stilisieren sollen, sind ihr eine Qual), sie ist zutiefst "authentisch" und die Menschen glauben ihr, weil "sie ist, was sie ist".

Ist der "König der letzten Tage" ein Historienfilm, so spielen die "Panem"-Filme in einer nicht näher bestimmten Zukunft. Mit ihnen wurde ein neues Filmgenre populär: das der "Dystopie". Diese schildert das Gegenteil einer Utopie, meist die Herrschaft eines (absolutistischen) Staates, der von Diktatur, Bürgerkrieg, Armut und Hunger geprägt ist, über das Denken und Leben der Bürgerinnen und Bürger.[3]

Könnte man das Bemühen der Wiedertäufer unter das Motto stellen "Sie wollten das Paradies und brachten die Hölle", so gibt es in Panem dieses Paradies bereits: Es ist das Kapitol, in dem die Menschen im Wohlstand leben, auf Kosten der Menschen in den 12 Distrikten, von denen alljährlich ein Tribut gefordert wird. Ursprünglich waren es 13 Distrikte, doch jener 13. wurde aufgrund seines Aufbegehrens gegen die fortwährende Ausbeutung angeblich ausgelöscht. Seitdem werden als Erinnerung an den Ausgang jener Rebellion die sog. Hungerspiele gefeiert, die auch von den 12 Distrikten als Fest begangen werden sollen. Diese werden gezwungen, Jahr für Jahr zwei Tribute zu stellen, einen Jungen und ein Mädchen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, die für Kampfspiele in einer Arena ausgelost werden, in denen es nur eine/n Gewinner/in geben kann.

Katniss aus Distrikt 12 ist die erste, die sich freiwillig meldet: sie steigt für ihre Schwester Primrose in den Ring.

Die sich zur Amazone entwickelnde Katniss wird zunächst gezeichnet als zutiefst verunsicherter und verängstigter Teenager, der eine Welt, die bereits einmal untergegangen ist und zwischen deren Trümmern die Menschen vegetieren (alle, bis auf einige, die im Wohlstands-„Kapitol" leben), aus der Bevormundung durch eine Herrschaftselite befreien soll. Der Film stellt die pragmatische Einschätzung der Gegenwart dar, in der eine überforderte Jugend zugleich zum Hoffnungsträger wird.

Hoffnung worauf? Die Alternativen sind nicht sehr verlockend; die Rebellen werden angeführt von einer Präsidentin, die vor keinem Mittel zurückschreckt, um den Krieg zu gewinnen; Katniss wird funktionalisiert, sie weiß darum und versucht sich am Ende in der ,neuen’ Welt, die sich von der alten nur unwesentlich unterscheidet, irgendwie einzurichten. Entspricht diese filmische Vision dem gegenwärtigen Lebensgefühl?

Katniss ist eine ideale Identifikationsfigur und erfüllt somit eine Spiegelfunktion; sie wird nicht als Superheldin gezeigt, sondern als ganz normales junges Mädchen, das weniger an das Wohl ‘der ganzen Welt’ denkt als vielmehr einfach ihre Familie (bzw. die kleine Schwester) retten will. Sie wird fast wider Willen zur Heldin aufgebaut und wird als solche zur Identifikationsfigur für alle Unterdrückten und Symbol der Revolution.

Als ‘unmoralischer Held’ - zunächst eher unsympathisch - wird Haymitch gezeigt, ehemaliger Hungerspiel-Sieger, Alkoholiker, deprimiert, unfreundlich. Letztlich ist er es, der Katniss ‘aufbaut’ (obwohl sie sich gegenseitig immer wieder ihre Abneigung kund tun) und die Revolution schließlich zur siegreichen werden lässt - er ist die Schlüsselfigur neben dem jesusartigen Peeta, der immer das Richtige sagt und tut, der gefoltert wird und immer an die Anderen denkt, aus Liebe handelt und leidet, so herzzerreißend, dass er schließlich auch die ursprünglich mit ihrem Jugendfreund Gale liierte widerständige Katniss emotional überzeugt.

Das zunächst übermächtige Kapitol lebt in Verschwendung und Dekadenz, während die verarmten Distrikte lediglich Zulieferer sind. Insofern ist "Tribute" ein Spiegel der Zweiteilung der Welt. Diese wird zwar am Ende durch den Sieg der Distrikte weitgehend aufgehoben; es bleibt aber offen, ob das Leben ein besseres und die Befreiung sich als Freiheit für die einzelnen etablieren wird.

Die mit jedem Sequel erfolgreicher werdende Filmreihe konnte sich am Ende mit dem recht zurückhaltenden, fast pessimistisch klingenden Schluss der Romantrilogie von Suzan Collins nicht anfreunden. Als habe Regisseur Lawrence und das Produktionsteam genug nach vier Folgen Dystopie, wurde ein utopischer Schluss angehängt, für den der Roman zwar Anhaltspunkte liefert, aber nicht im Sinne des auch von der Filmsprache her völlig unglaubwürdigen Happy Ends. So wird das Außergewöhnliche gewöhnlich, die Apokalypse zur Familienidylle.

Beide, der "König der letzten Tage" wie auch die Panem-Reihe, sind apokalyptische Filme - wie im ausgehenden Mittelalter spiegeln sie die Angst vor dem Untergang der Welt. Während jedoch im "König der letzten Tage" der Glaube noch eine Rolle spielt (bzw. dieser Glaube an Gott funktionalisiert wird), so zeigt die "Panem"-Reihe eine Welt, welcher der Glaube vollständig abhandengekommen und in der der Mensch dem Menschen ein Teufel - und manchmal auch ein Engel - geworden ist. Die ‘Anthropodizee’ hält die menschliche Ambivalenz offen und zeigt religiöse Figurationen in "weltlichem Gewand": so könnte man die Stellvertretung Katniss, die sich für ihre Schwester opfert, als Strukturanalogie zum christlichen Opfergedanken sehen.

D.h. "Panem" ist kein religiöser Film und die Religion spielt darin auch keine explizite Rolle; aber durch das Motiv der Stellvertretung wird Katniss zur Christusfigur ‘incognita’.[4]

3. Mad Max - Fury Road (George Miller, USA 2015)

Den Schluss der dystopischen Filmreihe soll der in der Namib-Wüste gedrehte "Mad Max - Fury Road" bilden, vierter Teil der "Mad Max"-Filmreihe, die 1979 begann.

Hier wird mehr geschossen, gerammt und gestochen als gesprochen; auf ganze drei vollständige Sätze kommt die von Thomas Hardy verkörperte Hauptfigur. Der erste Satz ist seine Frage: "Was ist der grüne Ort?" Dahin unterwegs sind nämlich Furiosa, die angenommene Tochter des Tyrannen Immortan Joe, der in der Zitadelle, einer künstlichen Oase in einer aus Felsformationen bestehenden Festung, herrscht. Die Imperator genannte Furiosa flieht vor der Armee des Tyrannen mit dessen fünf jungen, "Brüter" genannten, Frauen an den Ort ihrer Geburt, eben diesen "grünen Ort". Max schließt sich ihnen an, schränkt jedoch die Erwartungen, die sich an das zu erreichende Ziel knüpfen, mit seinem zweiten Satz ein: "Hoffnung ist ein Fehler". Fast gibt ihm der Verlauf der Fluchtgeschichte recht: Das grüne Land existiert nicht mehr, das Wasser ist sauer geworden, das Land sumpfig. Als Furiosa mit den Überlebenden durch die Salzwüste will, in ein mögliches Utopia jenseits, gibt Max ihr eine Karte: "Da musst du hin!" Eingezeichnet ist der Ort, von dem sie geflohen sind: die Zitadelle. Der Ort, an dem es Wasser gibt, der einzig existierende "grüne Ort". Furiosa muss Max recht geben: es gibt kein "Jenseits", nur ein Diesseits, es gibt keine Erlösung, nur die Lösung der gegenwärtigen Dilemmasituation. Immerhin, so viel Konvention muss sein, stirbt der Tyrann; darüber hinaus bleibt die Radikalität einer alternativlosen Diesseitigkeit bestehen, in der nur die Härtesten überleben und die Pferdeoper (der Western) nicht durch die Seifenoper (die mögliche Liebesgeschichte zwischen Furiosa und Max, die kaum angefangen, schon wieder endet) verdeckt wird.

Ein letzter Film, in dem "mehr geschossen wird als geredet, und es wird viel geredet"[5], ist in anderer Weise ein Spiegel der Gesellschaft; er zeigt Gewalt als konstitutives Element, das sich in einem Geflecht aus Borniertheit, Misstrauen und Rassismus ungehemmt entfaltet.

4. The Hateful Eight (Quentin Tarantino, USA 2015)

Die Frage nach der Sichtung dieses Films - ob das alles nur ein zynisches Spiel ist (eine erzählerische Klammer, um möglichst viel Gewalt zu zeigen, ein Gewalt-Porn also) oder ob das behauptete Pathos irgendwo eingelöst wird - muss nochmal mit dem Anfang starten - ganz so, wie Tarantino mitten im Film den Film nochmals von vorne laufen lässt, aus einer etwas früheren Perspektive.

Die ersten Filmbilder führen uns in ein verschneites Land, der Blick weitet sich angesichts der Wälder, Ebenen, Höhen und des Himmels - begleitet von den wuchtigen Tönen Ennio Morricones. Der Blick verliert sich in dieser strahlenden Weisheit, bis die Kamera nah an etwas heranfährt, das als dunkle Erhebung gesehen werden kann, fast verdeckt von Schnee. Erst als die Kamera wieder etwas zurückfährt, zeigt sich das Ding als Angesicht eines Corpus - dieser hängt an einem riesigen Holzkreuz, das die heranfahrende Kutsche passiert.

Der anfängliche Panoramablick wird verengt, zunächst auf das Kutscheninnere, dann in das Innere eines Hauses - dort bleiben wir (bis auf den kurzen Zeitschwenk nach hinten, bei dem man wieder den Christus am Kreuz hängen sieht) bis zum Ende.

Mag sein, dass Tarantino einfach gerne DAS Gewaltbild der christlichen Ikonographie zitiert, wie auch der Western eins der ‘religiösesten’ Genres ist (wenn man bei der Quantität der zitierten Motivik bleibt). Vielleicht landet man aber auch (nach erneuter Bonhoeffer-Lektüre) bei einer anderen Spur.

Der Inhalt des achten Films von Quentin Tarantino ist schnell erzählt. Zwei Kopfgeldjäger mit einer gesuchten Frau und dem angehenden Sheriff des nächst gelegenen Ortes suchen Zuflucht vor einem herannahenden Schneesturm in Minnis Miederwarenladen. Dort befinden sich schon vier weitere Männer, die, wie sich etwa in der Mitte des Films herausstellt, die ursprünglichen Hausbewohner getötet haben und nun darauf warten, die Frau, die zu ihrer Bande gehört, zu befreien. Am Ende sind alle tot - oder fast tot; einer der Kopfgeldjäger und der Fast-Sheriff schaffen es noch, die Frau ‘ordnungsgemäß’ zu hängen, bevor sie voraussichtlich verbluten.

Wir sehen sie nicht sterben; die Kamera lässt sie, die noch bis zum Ende ihre Witze gemacht haben, zurück. Es folgt auch kein abschließender Blick nach draußen, in die transzendente Weite. Hat man zu Beginn den leidenden Christus am Kreuz gesehen, so muss man jetzt annehmen, dass die Inkarnation vollkommen und rückhaltlos erfolgt ist: "Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Mt 8,17 (...) ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!"[6]

Das Bild am Anfang wird also nicht vergessen, sondern ‘mitgetragen’, eingetragen in die grausamen Bilder der gegenseitigen Vernichtung.

Eine weitere Spur, die über das ‘totale Ende’ hinausweist, ist die Wichtigkeit der immer wieder gezeigten und geforderten Schriftstücke und Briefe. Neben dem gefakten Brief von Abraham Lincoln an Warren, den schwarzen Kopfgeldjäger, ist es auch das Tagebuch, das eines der Bandenmitglieder schreibt - befragt, was er da tue, sagt er, er schreibe das auf, wobei er sich am besten auskenne, und das sei eben seine Lebensgeschichte. Die Dimension, die durch das Schreiben (und Lesen) in den Westernalltag hineinkommt, liefert eine zusätzliche Perspektive auf diese Welt, die nicht genug zu sein scheint und die ihre Bedeutung durch den Spiegel der Schrift, des Beschreibens, erhält.

Nachwort

Furiosa steht in der Tradition der Katniss, die filmgeschichtlich durch Vorgängerinnen wie die Alienjägerin Ripley erst ermöglicht wurde und zumindest den letzten Satz der Utopie für das nächste Jahrtausend einlöst, welche die letzte Generation am Ende von Edgar Reitz’ "Heimat 3" (D 2004) so formuliert: "Nach und nach werden die Uhren verschwinden, weil sich niemand mehr für Pünktlichkeit interessiert; in der Architektur wird der rechte Winkel abgeschafft, denn wir lernen, Gebäude wie Pflanzen wachsen zu lassen; Männer werden Frauen und Frauen werden Männer sein ..."

Die Uhren: "In der Apokalypse verkündet der Engel, dass es keine Zeit mehr geben werde ... sie ist schließlich kein Ding, sondern eine Idee. Sie wird im Verstand erlöschen", so formuliert es Stawrogin in Dostojewskijs "Dämonen" in Anspielung auf Offenbarung 10,6. In den postapokalyptischen Welten dystopischer Filme herrscht eine Art Zeitlosigkeit, die sie zu Klassikern der Filmgeschichte macht, die wie Gleichnisse ‘immer aktuell’ sind.

Die Gebäude: Das Urban Gardening sowie neue ‘grüne’ Konzepte in Singapur ("Gardens by the Bay") und anderswo lassen an Offenbarung 22,2 denken, wo der durch die Stadt führende Strom die Bäume des Lebens wässert, die den Völkern zum Heil dienen sollen; das ländliche Paradies wird umgewandelt zur himmlischen Stadt, die den Garten in sich beherbergt. Unter der Kuppel der Gladiatorenkämpfe findet sich in "Panem" eine Wildnis, die, nach dem Tod der Tyrannen, die Keimzelle für neues Leben werden kann.

Nach Galater 3,28 ist hier "nicht Mann noch Frau", sondern alle sind eins in Christus; die Sprengung der geschlechtlichen Zuschreibungen bestimmter Rollenmodelle, wie sie in dem "König der letzten Tage" noch unhinterfragt präsentiert werden (Engele als Unschuld vom Lande und die Matthys-Witwe als Lady Macbeth), wird in späteren dystopischen Filmen konsequent durchgeführt.

Bei aller Dystopie und Verlust jeder Erlösungshoffnung haben zumindest die "Panem-"Filme wie auch "Mad Max" einen utopischen Einschuss, der Max’ Einschätzung, dass "Hoffnung ein Fehler" sei, zumindest relativiert.

Eingeschrieben in den Lauf der Dinge und das Handeln der Menschen werden transzendente Strukturen (betrachtet als fortschreitende ‘Inkarnation’ im Sinne von Bonhoeffers Ansatz); die Vervielfältigung von Differenzen, wie sie z.B. die Auflösung der Sphären des Männlichen und Weiblichen mit sich bringt[7], kommt in der Cyborgisierung der Amazone (Katniss mit der Armbrust) und der Furiosa (der fehlende Arm wird durch eine sehr funktionale Greifmaschine ersetzt) zum Ausdruck.

Der Spiegel des Films bildet nicht einfach ab, sondern "offenbart" auch etwas von dem "was wir sein werden" (1. Joh 3,2). Insofern weist er über sich hinaus wie auch tiefer (in uns) hinein.

Anmerkungen

[1]   Interview mit Tom Toelle von 1993 im ZDF-Mittagsmagazin, siehe Bonusmaterial der DVD 2 "König der letzten Tage" von 1992 (BETA Film)

[2]   Vgl. Terry Eagleton, Der Tod Gottes und die Krise der Kultur, München 2015

[3]   Bereits Fritz Langs "Metropolis" von 1927 lässt sich in diesem Sinne als als Dystopie bezeichnen, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_dystopischer_Filme, entnommen am 4.3.2016

[4]   Oder, um mit Bonhoeffer zu sprechen: "Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein, ... sondern es heißt Menschsein; nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht den Menschen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.", in: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1970, 395

[5]   Thomas Klingenmeier in seiner Filmkritik, siehe Stuttgarter Zeitung vom 27.1.15

[6]   Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, a.a.O., 394

[7]   Kathrin Peters, Media Studies, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), GenderWissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, 2.Aufl., Köln 2009, 350-369, 365.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/100/ik12.htm
© Inge Kirsner, 2016