Das katoptrische Universum


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Kurze philosophische Notiz zu einer ‚Philosophie des Zwischen’

Zur 100. Ausgabe des Theomag

Frauke A. Kurbacher

         „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.“
         1. Kor. 13, 12

Der Blick eines nahen, geliebten Menschen, der uns – vielleicht seitlich hinter uns stehend – im Spiegel ereilt, löst Befremden aus: – Wie schief sieht uns das vertraute Gesicht aus dem Spiegel an! So sieht der andere normalerweise gar nicht aus; so sehen wir ihn nicht.

In dieser kleinen, bloß einen Augenblick, einen Wimpernschlag dauernden Szene schwelt gleichsam ein uns unter Umständen noch weitaus befremdenderes Moment mit: Wieviel anders mögen wir selber aussehen, als wir es für uns im Spiegel tun? – Nicht einmal der Granatapfel wisse bei sich selbst, wie er heiße, lautet eine treffende Stelle in Inger Christensens Großgedicht Alphabet. – Wir sind nicht nur diejenigen, die ihren Rücken selbst nie zu Gesicht bekommen, letztlich gilt dieser Umstand für die ganze eigene Existenz.

Die alltägliche Sequenz zieht wie ein kurzer Lichtstreif über die Größe der Dimension des Paulus Verses, die uns darin aufdämmern mag und darauf reflektieren lässt, in welche Brechung und Mittelbarkeit nicht nur all unser Denken und Erkennen, sondern alles Seiende selbst gestellt ist und dem gleichzeitig eine beinah greifbare und wie depotenzierte Offenbarung gegenübergesetzt wird: die der konkreten unmittelbaren Begegnung – ohne Spiegel. Bezogen auf die Sentenz wird dies auch die Aussicht auf eine Umbrechung einer triadischen in eine dyadischen Konstellation, in eine bipolare oder binäre, fassbar ist sie aber für uns doch immer nur als letztere. Dies gilt auch oder gerade besonders für alle weltlichen Verbindungen. Der thematische Zusammenhang dieser dem Geburtstagskind Theomag titelgebenden Zeilen des 1. Korinther-Briefes geben somit diesseits zu denken und damit auch einen Rahmen für Reflexionen zur interpersonalen Relation. So wie sich schon lange vor der zitierten Stelle in der aristotelischen philia-Lehre eine Überlegung zur spezifischen Relation der Freundschaft findet, die zugleich selbstreflexives sowie subjekt- und persontheoretisches Potential hat und als sogenanntes „Spiegelverhältnis“ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Doch soll hier gar nicht der Spiegel in den Mittelpunkt gerückt werden, sondern ein weniger auffälliges, aber nicht weniger konstitutives Phänomen und Element der beschriebenen Szene – und zwar: ‚ein Zwischen’.[1] Die aufgerufenen Elemente, die beiden im Spiegel sich Anblickenden, zwei Personen, das Medium, der Spiegel selbst, aber auch ihre Relation zueinander und der Blick zeugen von etwas, was zwischen all dem ist und werfen die philosophische Frage auf, was dieses „Zwischen“ bedeuten kann. Diese Frage steht eng im Zusammenhang mit einer anderen, die ich an anderer Stelle, in der Befragung einer „Philosophie der Haltung“[2] dezidiert mehrfach entfaltet habe, nämlich der, wie sich Relation denken und philosophisch beschreiben lässt?

Was also ist mit einer „Philosophie des Zwischen“ bezeichnet?

Was immer eine Philosophie des Zwischen bezeichnen mag, auf jeden Fall bezieht sie sich auf etwas Relationales bzw. sie ist dieses Relationale scheinbar in irgendeiner Weise selbst. Und auch das harmlose Verb ‚beziehen’ scheint im Falle des Zwischen konstitutiven Charakter zu haben. Das ‚sich-Beziehen’ und das in-Relation-sein – oder etwas paradoxer: in-Relation-stehen – beiden kommt für ein Denken des Zwischen ganz offensichtlich etwas Grundsätzliches zu.

Das Zwischen evoziert eine Lücke. Es evoziert etwas, wo zwischen es sich überhaupt befinden kann. Dies können andere Relata sein, aber auch ein Raum, ein Vakuum, oder weniger aufgeladen: zumindest ein Freiraum zwischen ihnen. Insofern ist jedes Zwischen abhängig von etwas, wozwischen es sein kann, es ist nicht unabhängig. Dennoch suggeriert die Benennung einer „Philosophie des Zwischen“ einen eigenen Wert desselben in autonomer Weise. Ist dies möglich?

Immerhin zeigt das Obige, dass das Zwischen Relata impliziert und Beziehung oder mindestens die Möglichkeit von Beziehung. Insofern eröffnet das Zwischen ein Feld aus möglichen Beziehungsweisen. Wir fragen nach dem ‚Wie’, den vielen verschiedenen ‚Wie’ etwas mit etwas anderem oder jemand mit etwas anderem oder jemand mit jemandem oder mit mehreren anderen in Beziehung stehen kann. Beziehung – und offenbar auf irgendeine Weise auch das Zwischen – ist Distanz wie Verbundenheit inhärent. Es braucht einen Abstand, um bezogen sein zu können, es braucht eine Art der Verbindung, um bezogen sein zu können. Im Zwischen ist etwas nicht mit etwas anderem identisch und doch in Relation. Im Zwischen ist etwas nicht gänzlich opak, aber vielleicht auch nicht vollends transparent. Das Zwischen ist nichts Ontologisches im Sinne von etwas Vorliegendem, sondern es entsteht in situ, in Situation, in spezifischem Verhältnis. Es ist situativ und fluid, prozessual, selbst wenn ein Verhältnis latent statisch geworden ist oder sich etabliert hat. Ähnlich dem Gedanken der Ambivalenz des Zwischen aus Distanz und Verbundenheit, hat das Zwischen offenbar auch den Charakter von Differenz und Verbundenheit – und zwar von beiden zusammen, ohne dass jedoch ihr Unterschied dabei aufgehoben würde.[3]

Aufgrund seiner bisher aufgezählten Konturen, scheint sich das Zwischen als Brücke für ein Denken des Interkulturellen anzubieten.

Einige Denker haben dem Zwischen Relevanz zugebilligt. Allen voran wohl Martin Buber in seinem ‚dialogischen’ Ansatz und im Theorem der „Begegnung“.[4] Aber auch Hannah Arendt, wenn sie vom „Bezugsgewebe der Menschen“ oder besser: zwischen Menschen spricht und insbesondere das Sprechen, Handeln und Urteilen meint.[5] Aber auch Bernhard Waldenfels scheint das Zwischen in eigener Weise zu thematisieren, wenn er allen Phänomenen, die er reflektiert, Grauzonen, Zwischentöne und Zwischenstufen entlockt.[6]

Doch diese strukturellen Überlegungen bestehen nicht losgelöst von Phänomenen, die ihnen Anhalt und Anlass geben, wie der im Spiegelverhältnis zugleich mitgegebene und mitgedachte Blick, von dem letztlich nicht auszumachen ist, wohin und zu wem er gehört. Im Blick kommen Blickender und Angeblicktes auf schwerlich zu differenzierende Weise zusammen, jedenfalls weniger eindeutig als es Sprache uns zuweilen – wie in der obigen Distinktion zwischen Blickendem und Angeblicktem – weiszumachen vermag. Diese größere Uneindeutigkeit des Blicks besteht jedoch eigentümlich, ohne die Differenz dabei zu verlieren. Sie besteht in Beharrung auf der Differenz von Blickendem und Angeblicktem und zugleich in der Diffusion dieser Konstellation und gleichfalls, ohne den Blick selbst eindeutig zu- oder einordnen zu können.[7] Im Blick ist auf solche Weise etwas getrennt und verbunden, wie es zuvor für das Zwischen beschrieben war und scheint ein Eigengewicht zu gewinnen. Auch das Phänomen Haltung lässt sich in dieser Weise reflektieren, die eindeutige Zuordnungen von passiv und aktiv selbst in Reflexion bringt, in eine Art besonnener Spiegelung – und dies lässt Gedanken und Blicke auf (das Phänomen) Reflexion selbst zu.[8]

In Reflexion erfolgt immer eine eigene Orientierung in Richtung auf etwas, im Bedenken von etwas, also immer auch zugleich orientiert an etwas, das über den eigenen Horizont hinausweist und zugleich in Rückkopplung an denjenigen, der sie betrifft oder betreffen kann.[9] Es ist wie ein Ausgang aus sich selbst auf etwas zu, dass über unabsehbare Wege wieder zu einem selbst zurückführt, ohne von diesem Selbst noch dasselbe behaupten zu können wie davor. Im Bedenken, Erforschen, im Reflektieren erwächst uns so eine eigene Freiheit und Unabhängigkeit, die im Reflektieren schon immer zuvor gegeben ist und auch in einer Offenheit besteht, das Ergebnis grundsätzlich nicht zu kennen und letztlich auch bei keinem stehen zu bleiben. Die Arbeit der Reflexion ist offen, kritisch und nie beendet. Die Unabgeschlossenheit des Reflektierens und derjenigen, die es unternehmen, lässt das, was wir tun, das Philosophieren als Tätigkeit immer auch einen Versuch sein, der einmal mehr, einmal weniger und manchmal auch nicht gelingt. Aber in all dem ist es nicht nur ein lebendiges Philosophieren, sondern letztlich – auf das Ganze betrachtet – auch der glückende, gelingende Versuch, im Reflektieren, wo wir von uns selbst ausgehen und zwar zu uns zurückkehren, doch immer über jenes Moment, sich ganz selbstvergessen im Philosophieren zugleich wirklicher zu sein, als man es sonst erfahren könnte, sich so existent zu fühlen und der bedachten Sache näher und verpflichtet, als es durch irgendetwas anderes sonst bewegt werden könnte. Diese Freiheit, die nur bei einem selbst beginnen kann, aber immer über einen selbst auf Andere und Anderes hinausweist, diese Art freiheitlicher Weltverflochten- und -verbundenheit scheint ein Insignum lebendiger Reflexion.

Eine Philosophie des Zwischen markiert in solcher Weise unter Umständen einen gesamten Wandel im philosophischen Denken, das im Abendland vor allem seit der Neuzeit bis in die Moderne hinein durch eine Konzentration auf den individuierten Einzelnen und das Subjekt konzentriert war. Mit dem Zwischen stehen auf einmal (wieder) die kontingenten Kontexte und die Beziehungen zwischen Personen im Vordergrund, die zwar den individuierten Einzelnen durchaus produktiv implizieren, ihn jedoch verstärkt in interpersonaler Wechselwirkung betrachten.

Anmerkungen

[1]    Auch dieser Punkt berührt das Theomag. Ta Katoptrizomena. Magzin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik in eigener Weise. Als ein erklärtermaßen interdisziplinäres Magazin, das sich zwischen den Disziplinen und Phänomenen des Ästhetischen, Religiösen, Philosophischem und Kulturellen bewegt, ist ihm ebenfalls ein „Zwischen“ in besonderer Weise eigen und präsent.

[2]    An dieser Stelle verweise ich nur auf eine Auswahl meiner vielfachen Ausarbeitungen einer „Philosophie der Haltung“. Siehe: Kurbacher, Frauke: „Was ist Haltung?“ In: Theomag, Heft 43, 2006. Dies.: „Haltung als Theorie der Bezüglichkeit im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit, Privatsphäre und Intimität.“ In: Inversion. Öffentlichkeit und Privatsphäre im Umbruch. Hg. v. Frauke A. Kurbacher, Agnieszka Igiel, Felix von Boehm. Würzburg 2012. S. 95-107. Dies.: „’Haltungswechsel’ – Zur Interpersonalität und Interkulturalität des philosophischen Liebesbegriffs“. In: Die Welt der Liebe. Hg. v. Takemitsu Morikawa. Bielefeld 2014. S. 77-99. Und demnächst: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung. Würzburg 2016. In einem anderen Artikel für das Theomag habe ich im Rahmen einer „Haustierphilosophie“ auch über das Phänomen des Blicks als ein Zwischen nachgedacht, siehe Theomag, Heft 80, 2012.

[3]    Und damit u. U. vielleicht sogar doch den von Identität, wenn die – allerdings höchstens denkbare vollständige Übereinstimmung mit etwas immer noch als Verhältnis, und zwar als sehr spezielles Verhältnis gedeutet wird.

[4]    So in seiner Hauptschrift „Ich und Du“, aber auch „Urdistanz und Beziehung“, ein Text, auf den ich hier im Besonderen verweisen möchte, sind hier zu nennen. Siehe Martin Buber: Das dialogische Prinzip. 11. Aufl. Gütersloh 2009.

[5]    Siehe Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 4. Aufl. München 2006 (1967). (Amerik. Ausg.: The Human Condition. Chicago 1958). Kap. 25: „Das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten“. S. 213-222.

[6]    Siehe Bernhard Waldenfels, insbesondere: Ordnung im Zwielicht und ders.: Schattenrisse der Moral. Frankfurt am Main 2006.

[7]    Dies ist vielleicht etwas, was die Sartresche Blicksphilosophie bei all ihrer Trefflichkeit und vor allem Wirkmächtigkeit für den Intersubjektivitätsdiskurs doch auch in Teilen vermissen lässt. Im Kampf um Subjektivierung und Objektivierung ist im Gedanken der jeweiligen Nichtung bei allem Changement, die diesem Prozess auch hier eingeschrieben ist, doch eine größere Eindeutigkeit mitgegeben, als dem Phänomen des Blicks in Gänze eigen zu sein scheint. Selbst wenn auch Momente, die sprachliche Vereindeutigungen, die z.B. als „Blicke, die töten können“ oder „Blicke, die berühren“ gefasst werden, mit inbegriffen sind. Das Phänomen des Blicks oszilliert.

[8]    Die folgenden Gedanken decken sich zum Teil mit Überlegungen aus einer kleinen Ansprache vom Januar 2016 zum 20jährigen Bestehen des IiAphR, des Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion, einem weiteren diesjährigen Geburtstagskind.

[9]    Oder es betrifft sogar auch diejenigen, also mehrere, wenn gemeinsam nachgedacht wird.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/100/fk15.htm
© Frauke Kurbacher, 2016