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Magazin für Theologie und Ästhetik


Cinema mundi

Die Überwindung der Patriarchen

Karsten Visarius

Wenn das Kino Familiengeschichten erzählt, dann spricht es von gestern und heute, von der Folge der Generationen, von der Suche nach sozialer und sexueller Identität, von Erfahrungen, denen wir nicht entrinnen. Selbst wenn wir uns gegen sie auflehnen, bleiben wir ihnen unterworfen. Es gibt kein neutrales Außen, auf das wir uns zurückziehen könnten. Das aktuelle Kino erzählt zugleich, dass die gewohnten Rollenverteilungen und -zuweisungen im familiären Geflecht, Vater und Mutter, Mann und Frau, Tochter oder Sohn, erschüttert sind. Der Oscar-Gewinner des Jahres, "American Beauty", zeigte eine Familie, in der jeder seiner Rolle zu entfliehen trachtet. Und er konnte sich, vermute ich, seinen gelassenen, tröstlichen, ja optimistischen Tonfall nur deshalb leisten, weil er das ganze Drama durch eine Vaterstimme aus dem Jenseits erzählen ließ. Solche metaphysischen Errettungen gelingen immer seltener. Zumal gerade der Vater sich wieder und wieder als die fragwürdigste Figur des Familienromans erweist.

Ein klassischer, ganz und gar unzeitgemäß gewordener Patriarch wie in "East Is East" von Damien O'Donnell leuchtet uns nur noch als Gestalt aus einer fremden Welt ein. George Khan, in Abwesenheit von seinen Kindern gelegentlich auch "Dschingis" genannt, stammt aus Pakistan und lebt Anfang der siebziger Jahre schon mehr als zwei Jahrzehnte im nordenglischen Salford. Am Rundfunk verfolgt er den Krieg um das abtrünnig gewordene Bangla Desh, im eigenen, finanziell von einem Fish&Chips-Laden und der Tatkraft seiner britischen Frau Ella erhaltenen Haus verteidigt er die Traditionen seiner Heimat: vor allem das Recht, seine Söhne nach väterlicher Wahl und mit Hilfe des örtlichen Mullah zu verheiraten, am besten mit Töchtern aus frommen, wohlhabenden und konservativen pakistanischen Immigrantenfamilien. Den Söhnen indessen steht der Sinn nach der Musik des Swingin' London, englischen Mädchen, demokratischen Freiheiten und verbotenen Schweinswürsten. Sie wehren sich gegen aufgezwungene Bräute, die sie als "blöde Pakis" verachten.

Der Kampf, den George Khan mit jederzeit aufbrausender Wut, verbalen Drohungen und, im Notfall, blinden Handgreiflichkeiten bestreitet - ein blaues Auge trägt ausgerechnet die vermittelnde Ella und eine Platzwunde der fügsame Koranstudent Maneer davon -, ist schon von Beginn an entschieden. Mit einer Marienprozession in der ersten Sequenz und einer zum Beat des Titelsongs schwankenden Madonna auf den Schultern der Khan-Söhne schlägt der Film einen komödiantischen Tonfall an, der den Machtanspruch des Vaters untergräbt. Von der Mutter vor dem verfrüht aus der Moschee Zurückgekehrtem gewarnt, scheren die Khan-Sprösslinge in eine Seitenstraße aus und vereinigen sich außer Sichtweite wieder mit dem christlichen Festzug. Hinter dem Rücken des Vaters ist ein Prozess im Gang, der seinen Widerstand der Lächerlichkeit preisgibt. Nur einer, Sajid, der jüngste Khan und noch ein Kind, trägt dabei ein unvergessliches Mal davon. Beim Wettpinkeln, bei dem er stolz den höchsten Pissbogen produziert, wird entdeckt, dass man seine Beschneidung vergessen hatte. Nach der schmerzhaften und voller Angst erlebten Operation legt er verstört seinen immer schmieriger werdenden, fellbesetzten Parka nicht mehr ab. In ihm hat sich der Drehbuchautor Ayub Khan-Din selbst porträtiert, in seinem Blick bündeln sich die Familienereignisse, er ist das letzte Opfer der väterlichen Macht (ein Opfer, zu klein, um ernstgenommen zu werden?) - und er hat schließlich dem Vater ein Bild gewidmet, dass in seinem Sturz auch seine Tragik wahrnimmt.

An der Schnittstelle zwischen den Kulturen, aus deren Kontrasten "East is East" seine Anekdoten, seine Einsichten und Pointen gewinnt, und im historischen Rückblick scheint eine Versöhnung mit der autoritären Vaterfigur noch - oder wieder - möglich zu sein. Im Inneren unserer Geschichte hingegen entdeckt das Kino auffallend häufig im Vater ein Monster. Vielleicht werden wir später wissen, warum der Film der Jahrhundertwende, im Kontrast zu den Superhelden in den Phantasien der Mainstream-Produktionen, dem Verdacht zuneigt, dass sich in den Masken der paternalistischen Fürsorge, des Schutzes und einer neuen Sensibilität ein zügelloses Begehren verbirgt. Thomas Vinterbergs "Das Fest" war nicht nur das Fanal der Dogma-Bewegung in Dänemark (und Europa), die gegen das Kino der Effekte eine neue ästhetische Wahrhaftigkeit propagiert, er machte auch dem Doppelleben eines Erfolgsmenschen und inzestuösen Vergewaltigers den Prozess. Das Schuld-und-Sühne-Drama "Magnolia" von Paul Thomas Anderson, ein anderes Beispiel, ließ in einem apokalyptischen Froschregen einen Show-Produzenten sterben, der seine Tochter missbraucht hatte -gewaltiger konnte der Schuldspruch über die Missachtung des strengsten Tabus kaum ausfallen.

Schon im Titel seines Debütfilms als Regisseur kennzeichnet der britische Schauspieler Tim Roth die Familie als ein mit dem Tod schwangeres Terrain. Das Kriegsgebiet, "The War Zone", erkundet der gleichnamige Film mit den Augen des fünfzehnjährigen Tom, kein Kind mehr und noch kein Mann, die Haut von entzündeten Pickeln übersät. Noch balgt er sich mit der achtzehnjährigen Jessie und bleibt allein, wenn die Schwester mit einem Freund in den Dünen verschwindet. Noch fühlt er sich vernachlässigt, wenn sich die Mutter im Krankenhaus nur noch der neugeborenen Alice widmet, und lässt sich tröstend den Kopf wuscheln. Und Dad? Dad schmeißt den Laden, brutzelt was in der Pfanne, erzählt, wie es sich anfühlt, Vater zu sein, und erledigt am Telefon beiläufig seine unverständlichen Geschäfte. Wenn die Wöchnerin heimkehrt, streichelt er zärtlich und verlangend ihren formlosen Leib. Vertraute, sich vertrauende Körper zeigt der Film: Jessie scheucht Tom vom Klo, redet mit ihm im Bett mit entblößten Brüsten, und der Vater marschiert nackt durchs Haus, um das Telefon zum Schweigen zu bringen. Was schließlich die Mutter betrifft, von Tilda Swinton gespielt, so ist es ein wahres Wunder, wie sie Madonnenspiritualität und Erdenschwere in sich vereinigt. Der Eindruck einer Musterfamilie mit ordentlicher Brut- und Nestwärme liegt nicht fern.

Der Idylle arbeiten ästhetische Signale entgegen, unterschwellige Vor- und Warnzeichen - die schroffen Klippen der englischen Südküste, eine donnernde Brandung, dahinter das giftig leuchtende Grün der Wiesen unter bleigrauem Himmel, mitten darin das bettlakenweiße Häuschen der Familie, umschlossen von völliger Einsamkeit. Und: die blutigen Schrammen, die die Gesichter entstellen, nachdem auf der überstürzten Fahrt ins Krankenhaus das Auto sich überschlagen und die Schmerzensschreie der Gebärenden die Dunkelheit zerrissen hatten. In den Bildern verdichtet sich eine physische Bedrängnis, die für Tom eine entsetzliche Entdeckung bereithält. In einem Bunker über den Klippen sieht er den Vater die Schwester anal vergewaltigen, in einem perversen Liebesakt. Er entdeckt in der Familie einen Abgrund, ein Verbrechen, dass die Unheimlichkeit der Sexualität offenbart. Der Film gibt uns keine Erklärungen. Er konfrontiert uns mit der Wucht der Katastrophe und ihren Folgen. Vielleicht ist der sich selbst überlassene, der rein physisch gewordene Körper schon die Katastrophe.

Wie sich die Identität von Ich und Körper auflöst, wie eine neue, vaterlose Familienkonstellation entsteht und ein Fortleben ohne Fortpflanzung möglich erscheint, davon erzählt der surreale, ebenso frivole wie einfallsreiche amerikanische Film "Being John Malkovich" von Spike Jonze, nach einem Drehbuch von Charlie Kaufman. Die phantastischen Wendungen seiner Geschichte inszeniert er in einem nur gelegentlich verfremdeten Alltagsrealismus, dem unsere Wahrnehmung willig folgt und der zugleich unsere Logik souverän ignoriert. Es hört sich zwar wunderlich an, dass der Marionettenspieler Craig Schwartz, zum Broterwerb Archivar in einem obskuren, auf das siebeneinhalbte Stockwerk eines New Yorker Bürogebäudes beschränkten Unternehmens ohne erkennbaren Erwerbszweck geworden, hinter einem Aktenschrank einen Gang entdeckt, in dem der Neugierige flugs in den Kopf des berühmten Schauspielers John Malkovich schliddert. Der Film wechselt nur den Schauplatz - und die Perspektive, die zur Sicht unseres vorfilmischen Identitätsdenkens nicht mehr zurückfindet. Nach fünfzehn Minuten für Craig bemerkenswerter, für den besetzten Malkovich unbemerkter Doppelexistenz und einer erneuten Rutschpartie landet das Ich des Puppenspielers, plumps, wieder im eigenen Körper und neben einem Highway New Jerseys.

Die Passage ins fremde Bewusstsein bildet den Schlüssel für eine wild wuchernde Kombinatorik, die in und mit John Malkovich immer neue Konstellationen von Körpern und Existenzen zerlegt und zusammenführt. Sie wird angetrieben von dem Wunsch, nicht etwa ein Anderer zu werden, sondern in einem - bewunderten und begehrten - Anderen man selbst zu bleiben. So machen Craig und seine vergeblich umworbene Kollegin Maxine aus der Exkursion in Malkovichs Kopf ein florierendes Kurzreiseunternehmen für erlebnishungrige Angestellte, in die sich eines Tages auch der allmählich doch etwas beunruhigte Schauspieler einreiht. Er hängt an der altmodischen Vorstellung, Herr in der eigenen Person zu sein. Wenn er schließlich dort landet, muss er entdecken, dass sich die Welt in lauter Malkovichs vervielfältigt hat. Jonzes absurde Komödie will gewiss nicht ernstgenommen werden. In seinen bizarren, unser Lachen provozierenden Pointen steckt dennoch auch ein Erschrecken über die Realisierung unserer Imaginationen, die das Kino ermöglicht, ein heimlicher, für die ganze Familie geeigneter Horrorfilm. In der Bilanz bleibt ein entseelter John Malkovich, von einer ganzen Schar Eingeweihter kolonisiert, die im Schlüsselloch zum nächsten und übernächsten Ich das Tor zur Unsterblichkeit entdeckt haben. Es bleibt ein weibliches Paar, Maxine und Craigs Frau Lotte, die unter Benutzung von John Malkovich eine Tochter gezeugt haben. Und in dem neuen Wesen, das im Schlussbild fremd, anmutig und schön im Wasser eines Pools schwebt, steckt, ohnmächtig und auf immer gefangen, der Puppenspieler, der zur falschen Zeit in das Mädchen geriet - der Mann, der vollständig zur Fiktion geworden ist.


© Karsten Visarius 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 7/2000
https://www.theomag.de/07/kv3.htm