Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Lust auf Kunst

Otfried Schütz

Lust gehört zu den Wörtern der deutschen Sprache, die eine schillernde Bedeutung tragen. Eines ist allen Bedeutungen gemeinsam: Sie gehören in die Kategorie positiv besetzter Daseinsformen. Wichtige Denker, allen voran Philosophen, erklärten das Lustprinzip gar als herausragenden Parameter für menschlichen Handlungen - und konsequent dazu die Unlust. Damit rückt dieses Phänomen, besonders unter der Lupe der Psychologen, in die Nähe der sonst den Trieben vorbehaltenen Steuerungsmechanismen.

Lust auf Kunst - das lenkt zuerst die Blicke auf den Künstler, der die Lust braucht, um Kunst überhaupt zustande zu bringen. Ohne Lust geht auch der Maler nicht ans Werk - um dann, unter Einsatz gewaltiger Anstrengungen, sein Bild zu malen. Und nicht nur beim Künstler man hat sich daran gewöhnt, daß am Anfang die Bemühung steht, die zum wahren Lustgefühl führt - und wenn es sich erst am Ende der getanen Arbeit einstellt. Diesem Hinweis will ich aber nicht bis in alle gesellschaftliche Dimensionen nachgehen, denn hierbei wäre zunächst festzustellen, daß dort die Anstrengung ganz allgemein verpöhnt ist, weil Arbeit öffentlich als etwas dargestellt wird, was man vermeiden sollte - doch die Lust, die bei den ganz Jungen im Pelz des Bocks daherkommt, hat oberste Priorität und Vorrang in unserer Gesellschaft. Ein Künstler ist in der öffentlichen Meinung ohnehin jemand, der nur seiner Lustbefriedigung lebt - und exzessive Biographien bestätigen dies gelegentlich und beflügeln dabei die Phantasie ihrer Anhänger. Der Erfolg steigert ein weiteres mal die Lustbarkeit, was nicht selten eine Ausnahmeposition, eben die durch Lust definierte, ausmacht. Zugegeben - es gibt genügend Jobs, deren Lustgewinn nur in der fortlaufenden Unlust begründet sein kann - aber da wäre ich schon an dem Punkt angelangt, wo das Urteil über die Lust oder Unlust normaler Mitmenschen schier unmöglich erscheint. Deswegen lassen wir einmal beide, die Lust an der Mühsal der Künstler und die Unlust der Bürger, außer acht und konzentrieren uns auf den Lustgewinn des Betrachters, also auf unsere eigenen Befindlichkeiten. Denn: sich auf Kunst einzulassen verspricht, einen großen Gewinn zu haben - Vergnügen, Unterhaltung, Erkenntnis, Fan, u.v.a.m., worauf man eben Lust hat.

Umgangssprachlich ist Lusthaben allerdings eine diffuse Bezeichnung für vieles und manches, für manche Leute sogar nur für etwas ganz bestimmtes. Wir wollen uns aber hier auf den einen Fragenkomplex beschränken, der sich auf die vergnügliche Art der Kunstrezeption konzentriert: Lust und Sinnlichkeit, Sinnlichkeit und Kunst sind nicht nur rhetorische Dioskurenpaare. Die Sinnlichkeit ist, unstrittig seit der sogen. Moderne ( ab der 2. Hälfte des 19.Jh.), die Hauptvermittlerin aller Künste geworden. Wir können an diesem Phänomen sogar die Grenze vermessen, die die Klassische Moderne von der zeitgenössischen Avantgarde trennt: Die künstlerischen Mittel - Farbe, Material usw. - sind die selbstbewussten, nur sich selbst verpflichteten Elemente in der Gestaltung. Demgegenüber ist der Mitteilungswert über die erfahrene Wirklichkeit in der Kunst seit dem Ende des 19. Jh. unerheblich bzw. bei den Protagonisten dieses Jahrhunderts ausgeblendet. Die Sinnlichkeit des Materials, durch die freibleibende Ordnung arrangiert, ist der Dreh- und Ausgangspunkt für jegliche Kunsterfahrung geworden, die Kompositionen werden von solchen Sensationen genährt, die sie für das Auge, manchmal für die Hand, in der Musik für das Ohr, bereithalten. Das heißt für uns, die Betrachter, daß die entscheidende Botschaft der Kunst über unsere Sinnesorgane zum Denken führt: Sehen, Hören, Tasten, die drei, die für Kunstempfindungen zuständig sind; Riechen und Schmecken richten sich direkter, meist über die Speisekarte an die Schaltstelle, die Lust oder Unlust signalisiert. Sie haben recht gehört: Die Lustempfindung lokalisiere ich im Denken, das hier nicht allein als rational und an Sprachbegriffe gebunden verstanden werden darf. Dieses Denken ist ein komplexer Vorgang, wie er heute auch von den Naturwissenschaftlern definiert wird. Alle Vorgänge im Körper, auch alle durchgeführten Handlungen, gehen vom Kopf aus und gelangen als Impulse auch dort wieder an.

Und Sehen und Hören sind die Hauptantennen - sie können nur schwerlich durch andere Wahrnehmungsfunktionen ersetzt werden. Der Tastsinn hat zwar auch grundsätzliche Verarbeitungsaufgaben, aber er kann leichter kompensiert werden, z. B. durch das Sehen. Von diesem Umstand lebt unser Museumswesen, das das Anfassen nur in Ausnahmefällen erlaubt - selbst dem von Plastiken. Der Wandel von der Tastform zur Sehform ist, das sei zugegeben, schon früh in der europäischen Kunstgeschichte vollzogen worden (etwa durch Michelangelo), deshalb genüge hier dieser kurze Verweis. Aber eines steht fest: Wenn beim Anblick einer gestalteten Oberfläche, in aller Regel bei einer Skulptur oder Plastik, unser Verlangen nach abtasten, mit der Hand darüberfahren entfacht wird, heißt das auch, daß unsere Sinnesbahnen völlig intakt sind - auch wenn der elektronische Sensor dabei Alarm auslöst. Aber auch im Alltag unserer Zivilisation wurde der Tastsinn weit zurückgedrängt - es gibt Tapeten für Hausflure, die die Haut aufschürfen, sollte man ihnen zu nahe kommen. Und Anfassen von Personen gilt als unschicklich, solange damit nicht der Status persönlicher Nähe verbunden ist. In der traditionellen Kindererziehung gar wird immer noch auf die fingernden Händchen geklopft.

Die Sinnlichkeit leitet, nach dem Gesagten, für unser Denken die Sinnhaftigkeit ein - man erinnere sich nur an die Irritationen von Zunge und Nase, für Feinschmecker eine alte Bekannte. Es gibt nicht wenige Speisen, die verheerend riechen, aber köstlich schmecken. Und solche, die verführerisch aussehen und ungenießbar sind.

Aus Sinnlichkeit resultiert durch Nachdenken Sinnhaftigkeit, ein Vorgang unserer grauen Zellen, die angefüllt sind mit vielen Kombinationen, die unsere Sinnesorgane schon in der Vergangenheit vermittelt haben. Das Wissen um die Zusammenhänge ermöglicht uns, neuartige Verknüpfungen zu entschlüsseln und wer plötzlich findet, gewinnt dabei Lust - oder Unlust, in jedem Falle ein Ergebnis, das durch die Denkfähigkeit ermöglicht ist. Kunst ist dazu prädestiniert, unsere schon einmal gehabten Erkenntnisse auszuweiten, indem sie uns zu neuen Situationen führt (also auch noch ein Gehirntraining obendrein!). Die Sinnhaftigkeit wird also durch die Sinne vermittelt, Lust oder Unlust stehen in direkter Abhängigkeit zu ihnen, weil sie in der Schaltzentrale mit dem Namen Gehirn zusammentreffen - aber was hat diese Kopfarbeit mit Kunst zu tun, wo doch alle Welt die Kunst als gerade das Medium hält, das der alles beherrschenden Ratio entgegentritt? Meine Antwort darauf ist eindeutig: Auch das Gefühl im Bauch, eine heutzutage gängige Metapher für das nicht zuende Gedachte, muß im Gehirn entschlüsselt und dem zugeordnet werden, was das Bewusstsein von Lust oder Unlust erschafft. Es ist unstrittig, daß mancher Kunstliebhaber nicht sogleich sagen kann, warum er - oder sie - ein Werk besonders gut findet - aber das ist doch kein Beweis, daß sich Kunsterfahrung außerhalb der Denkabläufe im Menschen formiert. Manch einem Kenner verschlägt es sogar die Sprache vor einem solchen Ereignis, ohne daß es ausdrücklich als Kunst erklärt werden müsste; aber deshalb sind doch nicht die Denkabläufe beurlaubt. Oder um auf die gutturale Lust zu kommen: man will doch immer auch wissen, warum der Braten so gut schmeckt!

Auch die unmittelbarste, nämlich die durch Reflexion erworbene Erkenntnis ist ein Besitzstand, der ganz einfach Lust verschafft. Diese Einschätzung wird häufig als Romantizismus abgetan - aber man muß sich doch dann die Frage gefallen lassen, warum es überhaupt noch Leute gibt, die Kultur hervorbringen und solche, die sie partout haben wollen, und das seit mindestens 5000 Jahren? Erst wenn ich der als angenehm empfundenen Lust des Besitzes oder nur des Erkennens gewahr werde, gerinnt sie zu einem Teil meines Selbst. Natürlich sind solche Lustmomente Augenblicke der höchsten Identität eines Menschen. Ja, sie steigern sich zum Glück, der höchste Gipfel am Horizont meiner Seelen- und Denklandschaft. Wenn also, wie S. Freud behauptet, alle menschlichen Verhaltensweisen vom Prinzip der Lust oder Unlust geprägt sind, wer kann mich daran hindern, dieser von der Wissenschaft sogar als elementar erkannten Notwendigkeit nachzugeben und mir die Lust auf Kunst zu gönnen?


© Otfried Schütz 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 5/2000
https://www.theomag.de/05/os2.htm