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Magazin für Theologie und Ästhetik


Vor dem Kunstwerk

Protestantismus und Gegenwartskunst

Dietrich Neuhaus/Otfried Schütz

1. Religion und autonome Kunst

Religion und Kunst treten miteinander in Beziehung. Sie haben sich nie ganz aus den Augen verloren, denn Religion braucht zu ihrer Raum- und Gestaltwerdung in der sichtbaren Welt die Künste. Aber seit der Renaissance ist ein Prozeß im Gange, in dem sich die Kunst der vorherrschenden christlich-religiösen Blickrichtung mehr und mehr entzieht und eigene Ansichten über Gott, Welt und Mensch entwickelt. Am Ende dieses Prozesses steht das Selbstverständnis der Kunst als einer autonomen. "Autonomie" besagt in diesem Zusammenhang nicht, daß der Künstler als Person nun unabhängiger und freier geworden wäre, als er vorher war. Er ist weiterhin von individuellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Einflüssen abhängig, er muß seinen Lebensunterhalt mit seiner Kunst verdienen, Auftraggeber und Käufer gewinnen.

"Autonome Kunst" besagt aber, daß ein Kunstwerk jenseits aller subjektiven und objektiven Abhängigkeiten, in denen es sich immer befindet, einen "Mehrwert" besitzt, der sich nicht voraussehen und kalkulieren läßt. Dieser "Mehrwert" ist es, der jedes Kunstwerk zu einem Repräsentanten des autonomen Denkens, d.h. des von religiösen und gesellschaftlichen Konventionen freien Blicks auf Gott, Welt und Mensch werden lassen kann.

So treten denn heute Religion und autonome Kunst miteinander in Beziehung. Sie sind in vielem vergleichbar, auch wenn sie unterschiedliche Ziele verfolgen. Hinter die Entwicklung des autonomen Blicks gibt es kein Zurück. Selbst wenn Künstler von sich aus wieder religiöse Zusammenhänge suchen, mit religiösen Themen und Symbolen arbeiten oder in den Räumen der Kirche selbst gestalterisch tätig sind - die Blicke von Religion und autonomer Kunst kommen aus verschiedenen Richtungen.

2. Christliche oder autonome Kunst

Der Protestantismus hat den Prozeß der Autonomwerdung der Kunst unterstützt und forciert. Eine einzigartige künstlerische Produktivität und Vielfalt an Themen und Formen ist dadurch möglich geworden. So ist denn nicht etwa "christliche Kunst", sondern "autonome Kunst" protestantischerseits bewußt gewollt und bejaht.

Denn der Protestantismus in seiner Pluralität steht nicht zuletzt dafür, daß er den monoperspektivischen Blick auf den Grund und Gegenstand des Glaubens aufgehoben hat. Zwischen dem protestantischen Christentum, das bewußt die Vielfalt will, und dem autonomen Blick der modernen Kunst besteht darum eine WahIverwandtschaft.

3. Kunst und Erkenntnis

Jedes Kunstwerk ist eine Zumutung. Bei einem Werk der Gegenwartskunst ist dieser Satz oft unmittelbar einleuchtend. Er gilt aber auch für vertraut gewordene Kunstwerke der Vergangenheit, die allgemein akzeptiert und zu Klassikern geworden sind. Die Zumutung, die sie einst darstellten, kann in den meisten Fällen historisch rekonstruiert werden. Die Zumutung besteht darin, daß Kunstwerke die vorhandene Realität und von allen Menschen erfahrene Wirklichkeit nicht einfach darstellen oder abbilden. Sie konstruieren vielmehr eine eigene Wirklichkeit und beziehen sie auf die immer schon vertraute - nämlich ästhetische - Lebenswirklichkeit. Dadurch kann bisher Unbekanntes oder Verdecktes an der vertrauten Wirklichkeit für die menschlichen Sinne zugänglich werden. Kunstwerke formulieren so eine Erkenntnis in den Medien der Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Fühlbarkeit. Sie muten anderen Menschen zu, diese Erkenntnis zustimmend nachzuvollziehen, zu bestreiten oder eigenständig aufzunehmen und weiterzuentwickeln: Sie dokumentieren lediglich eine unter vielen möglichen Denk- und Handlungsformen.

Die meisten Menschen sind darin geübt, einen Dialog mit Worten zu führen, die einer sprachlichen Logik folgen. Ein nichtsprachliches Kunstwerk fordert zu einem Dialog über die künstlerische Erkenntnis im Medium der Bilder und Töne heraus. Auch ein solcher Dialog hat seine Regeln und sollte geübt werden.

4. Der ästhetische Prozeß

Eine häufig geäußerte Empfindung in der Begegnung mit moderner Kunst ist Ratlosigkeit. Um diese Ratlosigkeit zu verstehen und einen Schritt über sie hinaus zu tun, ist es sinnvoll, sich den Prozeß, in dem ein Kunstwerk entsteht genauer zu betrachten. Er soll hier der "ästhetische Prozeß" genannt werden.

Die Ästhetik (von griechisch "aisthesis" = mit den Sinnen wahrnehmen) ist ein Versuch, sich mit dem Vorgang des sinnlichen Verstehens anhand von Kunstwerken theoretisch zu beschäftigen. Kunstwerke selber erscheinen dabei als ein kompliziertes Geflecht von Formulierungen, das sich zu entschlüsseln lohnt um mit der von ihnen geäußerten Erkenntnis über mögliche Wirklichkeiten in einen (nicht unbedingt wortsprachlichen) Dialog treten zu können.

4.1 Der Produzent des Kunstwerks

Künstler nehmen ihre Umwelt und ihre Mitmenschen mit allen ihren Sinnen wahr. Sie analysieren diese Wirklichkeiten, sie gehen zu ihnen auf Abstand, sie verdichten sie und fügen sie zu einer künstlichen, sinnlich wahrnehmbaren Form zusammen. Die Wahrnehmungen des Künstlers sind durch seine persönliche Geschichte und durch allgemeine Vorgaben wie kulturelle Faktoren und zeitgeschichtliche Ereignisse gefärbt; sie gehen immer vom künstlerischen Individuum aus.

Aus der Perspektive des Künstlers ist das Kunstwerk ein Dokument seiner Verarbeitung von Wahrnehmungen, der Auseinandersetzung mit der neuen Formgebung. Über das Kunstwerk befindet er sich im Dialog nicht nur mit der gestalteten Wirklichkeit, sondern auch mit anderen Künstlern aus Vergangenheit und Gegenwart und deren Ansichten über die Dinge. Mit seinem Kunstprodukt nimmt der Künstler auch Stellung zu bestehenden Sinnzusammenhängen, soweit sie ästhetisch vermittelbar sind.

4.2 Der Rezipient des Kunstwerks

Der Rezipient nimmt ein Stück künstlich geschaffener Wirklichkeit mit allen seinen Sinnen wahr. Seine Reaktionen - Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Erwartungen - sind in erster Linie von ihm selbst ernst zu nehmen. Sie gehören zum ästhetischen Prozeß unabdingbar hinzu und konstituieren das Kunstwerk ebenso mit wie die Reflexionen und Handlungen des Künstlers. Der Rezipient nimmt mit seinen Wahrnehmungen in jedem Fall Stellung zu dem Kunstwerk: Er kann sich ihm verschließen und verweigern; er kann sich ihm öffnen, kann versuchen, es zu entschlüsseln, dann wird er mit dem Produzenten in einen Dialog über vergleichbare und unterschiedliche Wahrnehmungen eintreten.

Zu einer Horizontverschmelzung zwischen den verschiedenen Erkenntnishorizonten des Kunstwerks und des Rezipienten kommt es, wenn der Rezipient die im Kunstwerk formulierte ästhetische Erkenntnis verstanden hat. Dann hat der Rezipient eine ästhetische Erfahrung hinzugewonnen. Sie muß nicht notwendigerweise wortsprachlich formulierbar sein. Am Ende der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk kann der Rezipient zu einem eigenen ästhetischen Urteil kommen. Es bündelt und wertet das Wahrnehmungsgeflecht, zu dem das Kunstwerk im ästhetischen Prozeß seines Herstellens, Wahrnehmens und Verstehens geworden ist.

4.3 Das autonome Kunstwerk

Das autonome Kunstwerk entsteht in einem Freiraum des Denkens und Handelns, das seine Ausgangs- und Entstehungsbedingungen jeweils neu definiert. Hierin liegen die Offenheit und Unabgeschlossenheit begründet, die es jeder gesetzmäßigen Einordnung entzieht. Individuelle und gesellschaftliche Faktoren gehen freilich in seine konkrete Form und in seine Gesamtdefinition als Kunstwerk ein.

Über alle Absichten, die der Künstler in ihm ausdrücken will, über alles aneignende Verstehen und ästhetische Urteilen von seiten des Rezipienten, über alle religiösen, politischen und gesellschaftlichen Verwendungszusammenhänge, in die es gebracht werden kann, hinaus behält das Kunstwerk - einmal in die Welt gesetzt - einen unvorhergesehenen kulturellen "Mehrwert". Er ist auch darin begründet, daß kein künstlerischer Produzent alle äußeren und verdeckten Einflüsse während des Schaffensprozesses kontrollieren kann; daß die mögliche Zahl unterschiedlicher Rezeptionen unendlich groß sein kann; daß alle zukünftigen gesellschaftlichen Kontexte und Inszenierungen nicht voraussehbar sind. Ein Kunstwerk hat zeitlich und räumlich Bestand durch seine Form; es realisiert sich als benannter Ort im Fluß der Zeit.

5. Warum Gegenwartskunst in der Kirche?

Gott ist ein Gott der Gegenwart: "Denn siehe, ich bin da!" (Jes 52,6). Was für Gott selbstverständlich ist, ist für Menschen sehr schwer: in der Gegenwart ankommen. Gegenwart ist scheinbar etwas sehr Einfaches, weil sie jetzt gerade da ist und sich ereignet.

Um aber zu verstehen, was die Menschen der Gegenwart bewegt was der gegenwärtige Stand der Dinge und was der Lauf der Zeit ist, sind Wahrnehmungen und Erfahrungen nötig, die Gegenwart noch näher qualifizieren als nur als Zeitpunkt, der sich gerade ereignet. In der Gesellschaft sind viele Institutionen damit beschäftigt, Gegenwart zu bestimmen: Medien durch ständige aktuelle Informationen, politische Einrichtungen durch Problemanalysen und Lösungsstrategien, kulturelle Einrichtungen durch Aufgreifen und Gestalten von Atmosphären und Stimmungen. Kunstwerke sind ein Versuch, qualifizierte Gegenwart herzustellen: Sie nehmen Atmosphären auf, ziehen Verbindungslinien in die Vergangenheit, reflektieren und gestalten sinnliche Wahrnehmungen und nehmen damit eine Qualifizierung von Gegenwart vor, die weit über eine bloße Orientierung an oberflächlicher Aktualität hinausgeht. Religion ist in vielfacher Weise an qualifizierter Gegenwart interessiert. Sie will von Gott angemessen in der Gegenwart sprechen. Sie will das religiöse Leben heutiger Menschen gestalten und leiten. Sie steht damit in praktischer Hinsicht unter sprachlichen und raum-zeitlichen Gestaltungszwängen, um ihrem Auftrag und ihren Aufgaben gerecht zu werden.

Besonders religiöse Institutionen wie die Kirche neigen aber zum Festhalten an einmal gefundenen, tradierten Strukturen und Einstellungen: Sie sind besonders widerständig gegen Veränderungen. Dies hat seinen guten Grund darin, daß es eben ihre Aufgabe ist, religio (Rückbindung) herzustellen. Darin liegt aber auch eine Gefahr, daß nämlich die religiöse Institution den Kontakt mit der Gegenwart verliert.

Damit Religion ihren Auftrag angemessen und gegenwartsbezogen erfüllen kann, ist sie am Dialog und der Gewinnung einer qualifizierten Gegenwart interessiert und beteiligt. Dies ist nicht zuletzt ein Dialog mit der Gegenwartskunst. Unter den Vorzeichen der Autonomie der Kunst kann es dabei nicht um Vereinnahmung und nicht um Funktionalisierung gehen. Von kirchlich-religiöser Seite aus ist etwas ganz Einfaches zu entwickeln: eine Ethik der Gastlichkeit in pragmatischer Absicht. Es geht darum, die Türen von Kirche und Gemeindehaus zu öffnen, Gegenwartskunst in ihnen zu präsentieren, bisweilen auch den Kirchenraum von Künstlern gestalten zu lassen und dabei den verschlüsselten Erkenntnissen nachzuspüren, die in den Kunstwerken eröffnet werden. Der lebendige Gott ist ein Gott der Gegenwart. Die lebendige Religion ist eine gastliche Herberge auf dem Weg in die Gegenwart.


© Neuhaus/Schütz 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 4/1999
https://www.theomag.de/04/dnos1.htm